18. März 2021
Kolumne von Matthias Meisner
Sprachliche Dramatisierung ist manchmal hilfreich – und der Begriff „humanitäre Katastrophe“ durchaus passend, etwa wenn es um die Hungersnot der Menschen im Jemen oder den Krieg in Syrien geht. Aber beschreibt er auch die dramatische Lage in den Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln richtig?
Definitiv nein – sagt Maximilian Pichl, Rechts- und Politikwissenschaftler an den Universitäten Kassel und Frankfurt am Main. Er hat im Auftrag der Hilfsorganisation Medico International eine Studie zum fünfjährigen Bestehen des EU-Türkei-Deals und zur Einführung des Hotspot-Systems verfasst. Unter der Überschrift „Der ,Moria-Komplex‘“ fasst Pichl auf 38 Seiten zusammen, um welches Fiasko es beim Umgang mit Geflüchteten und Asylsuchenden auf den griechischen Inseln geht. Und dass der von Regierungsvertreter:innen genutzte Begriff „humanitäre Katastrophe“ bloß dazu diene, zu unterstreichen, dass „Hilfe vor Ort“ nötig sei und es eine „europäische Lösung“ brauche. „Dass Geflüchtete monate- oder gar jahrelang kaserniert werden und unhaltbaren Zuständen ausgesetzt sind, ist gerade nicht das Ergebnis einer Katastrophe, sondern von politischen Entscheidungen, die insgesamt in Kauf genommen werden.“
Eben dieses falsche Narrativ habe nicht verhindert, dass zwar fast drei Milliarden Euro von der EU an die griechische Regierung für die Aufnahme von Geflüchteten geflossen seien, dass private Hilfsorganisationen mehrere Millionen für Kleidung, Verpflegung, Medizin oder Kinderspielzeug erhalten hätten. Aber: „An den menschenunwürdigen Zuständen hat sich nichts geändert.“
Frustriert und wütend sind darüber nicht nur die Geflüchteten, sondern auch viele Expert:innen, die der Wissenschaftler für seine Studie befragt hat: Journalistinnen, Rechtsanwälte, Migrationsforscher. Zwar wurde durch den Brand auf Lesbos im September 2020 das konkrete Lager zerstört, nicht aber der „Moria-Komplex“, wie Pichl das Fortbestehen des Lagersystems – unter anderem mit dem neuen Lager Kara Tepe – und die Entrechtung von Geflüchteten nennt.
Geschont wird in seiner Analyse fast niemand: weder die griechische Regierung, noch die Regierungen anderer europäischer Mitgliedsstaaten, noch internationale Organisationen wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, noch zum Teil „sehr fragwürdige“ private Hilfsorganisationen, die in den Lagern aktiv seien. Letztere würden, wie Pichl an mehreren Beispielen belegt, das Hotspot-System ebenfalls mit stabilisieren. Für manche der dubiosen privaten Hilfsorganisationen würden die Camps zu einer „Goldmine“.
Zudem beklagt Pichl, dass sich die Justiz der Verantwortung für die rechtsstaatliche Kontrolle der EU-Hotspots entziehe. Von „Sonderrechtszonen“, „Freiluft-Gefängnissen“ und „Slums“ ist die Rede, wie es die Migrationsforscherin Valeria Hänsel formuliert. Von vermuteter Korruption im Zusammenhang mit Geldern für die Flüchtlingsaufnahme. Selbst der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sprach nach einem Besuch im Lager Moria von „unterirdischen Zuständen“. Karl Kopp, Europareferent von Pro Asyl, nannte es eine „Favela“. Zu beobachten sind mafiöse Strukturen in den Camps, es gibt Bordelle, Drogenhandel und Schattenwirtschaft.
Pichl selbst spricht mit Blick auf das Lagersystem auf den griechischen Inseln von „organisierter Verantwortungslosigkeit seitens der EU und ihrer Mitgliedsstaaten“. Legale Zugangswege für Asylsuchende würden ausgehebelt, „der Rechtsstaat durch eine exekutive Politik der Gnade ersetzt“. Zugleich werde die Verantwortung zwischen der EU, den Nationalstaaten, den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen so lange hin- und hergeschoben, „bis niemand mehr für die menschenrechtswidrigen Zustände in den EU-Hotspots politisch und juristisch verantwortlich gemacht werden kann“. Weiter schreibt Pichl: „Der ,Moria-Komplex‘ zeichnet sich durch eine Unzuständigkeitsstruktur aus, durch eine selektive An- und Abwesenheit staatlicher Souveranität: Der auf der einen Seite werden die Geflüchteten durch staatliche Zwangsmaßnahmen wie der Residenzpflicht in den Lagern festgehalten, auf der anderen Seite will niemand für die miserablen Lebensbedingungen der Geflüchteten verantwortlich sein.“
Der Autor der Studie zitiert Gerald Knaus, einen der Architekten des EU-Türkei-Deals: „Es ist eine strategische Entscheidung, genau durch diese Bilder von Menschen, die leiden, andere davon abzuhalten zu kommen. Das ist derzeit die Politik der Europäischen Union.“ Die Bundesregierung, so hält Pichl fest, habe ein ernsthaftes Hinwirken auf eine Evakuierung der Inseln oder eine substantielle Verbesserung der dortigen Lebenssituation unterlassen: „Sie ist in die unmenschlichen Zustände auf den griechischen Inseln verstrickt.“
Zur Rolle des UNHCR sagt Pichl: „Die Organisation ist, wenn auch nicht mit Vorsatz, zu einem Teil der Unzuständigkeitsstruktur geworden.“ Zur Rolle der Regierung in Athen zitiert Pichl die auf Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier: „Dass diese Lager auf Menschenrechtsbrüchen aufbauen und die Betroffenen dagegen nicht rechtlich vorgehen können, das kann nur funktionieren, wenn man als griechische Regierung nicht die Angst hat, zur Rechenschaft gezogen zu werden.“
Es ist eine aufrüttelnde Studie, die Pichl für Medico International verfasst hat. Der Wissenschaftler schließt mit vier Forderungen. Er verlangt, die politischen Strategien der europäischen Regierungen, die zu den Zuständen auf den Inseln geführt haben, zu benennen und zu verändern. Er fordert, die Ursachen für die Zustände zu untersuchen, will die Rechte der Geflüchteten ins Zentrum jeder politischen Strategie stellen. Zugleich wirbt er für ein Verständnis „kritischer Nothilfe“ an Stelle einer „Hilfe, die letztlich nur dem NGO-Sektor selbst dient, nicht aber den Geflüchteten“. Immer müsste geklärt werden, welche Tätigkeiten nicht das Lagersystem stabilisieren und dennoch konkret Leben retten und Geflüchtete unterstützen: „Nothilfe ist kein Selbstzweck.“
Foto: Dora Meisner