21. Juni 2021
Kolumne von Matthias Meisner
Die fröhliche Runde bei der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen traf sich, noch bevor die neue Dresdner Stadtschreiberin Kathrin Schmidt ihre für diesen Freitag angekündigte Antrittslesung im Kulturpalast der Landeshauptstadt hatte: „Spontaner Autoren-Besuch bei Sonnenschein von Bernd Wagner, Jörg Bernig und Uwe Tellkamp“, twitterte das Buchhaus Loschwitz vor ein paar Tagen ein Foto aus dem Hof des Ladens. Und: „Nach dem Regen kam dann noch die Stadtschreiberin Kathrin Schmidt.“
„Sie ist angekommen“, kommentierte ein Twitter-User die Visite der Stadtschreiberin und renommierten Literatin in Loschwitz – anspielend auf das Milieu der mit Pegida sympathisierenden Buchhändlerin Dagen und ihrer Mitstreiter. Zu dem mit Jörg Bernig einer gehört, dessen Positionen „von einer neurechten Weltanschauung zeugen“, wie der Historiker Volker Weiß im Streit um die Berufung Bernigs als Kulturamtsleiter von Radebeul sagte. Oder mit Tellkamp ein Autor, der 2017 die von Dagen initiierte „Charta 2017“ gegen eine „Ausgrenzung“ missliebiger extrem rechter Verlage wie Antaios auf der Frankfurter Buchmesse unterzeichnet hatte.
Gerade noch gefehlt hätte in der Runde im Hof der Buchhandlung eigentlich nur noch der ehemalige thüringische Verfassungsschutzchef Helmut Roewer, dessen neues Buch „Corona-Diktatur. Der Staatsstreich von Merkel, Christunion & Co. 2020/21“ vergangene Woche als „Sonderband aus der Reihe Exil“ des Buchhauses Loschwitz erschienen ist. Jener Roewer, dessen Amtszeit nach den Worten des MDR-Journalisten Axel Hemmerling „untrennbar mit der Entstehung und der Verstrickung des Verfassungsschutzes ins rechtsterroristische Netzwerk des ,Nationalsozialistischen Untergrunds‘ (NSU) verbunden ist“, will nun die Szene der Coronaleugner:innen ideologisch munitionieren.
Kathrin Schmidt dürfte sich in der Gesellschaft bei Dagen durchaus wohlgefühlt haben – die beiden eint der Zweifel, ob es im Lande noch echte Meinungsfreiheit gibt.
Und womöglich hätte sich Schmidt auch mit Roewer gut verstanden. Denn in einem am Wochenende veröffentlichten Gespräch mit der „Sächsischen Zeitung“ macht Schmidt keinen Hehl aus daraus, dass auch sie Corona nicht für eine Pandemie hält: „Es ist eine Erkrankungswelle, die zumindest für Deutschland keine Gefahr darstellt.“ Schmidt spricht von „Gesinnungsgräben“. Sie sagt: „Wenn man die Pandemie grundsätzlich infrage stellt, ist man rechts, weil das die AfD auch tut. Aber zwei plus zwei bleibt vier, selbst wenn es die AfD genauso sieht.“ Schon im vergangenen Jahr hat sich die Autorin der querdenkennahen Partei „Die Basis“ angeschlossen, in der sich Coronaverharmloser:innen und Verschwörungsideolog:innen organisieren und die einem „Tagesspiegel“-Bericht zufolge auch Netzwerk für Energetiker:innen, Aidsleugner:innen und Holocaust-Verharmloser:innen ist.
Geführt hat das Gespräch für die „Sächsische Zeitung“ die Reporterin Karin Großmann, Mitglied der vom Stadtrat berufenen Jury für die Stadtschreiber:in-Auswahl. Großmann sagt, als im September vergangenen Jahres die Stadtschreiberin nominiert worden sei, sei „das alles noch nicht absehbar“ gewesen. Nun aber soll Schmidt trotzdem ein halbes Jahr lang mietfrei in Dresden-Pieschen wohnen können, dazu gibt es von der Kulturstiftung der Ostsächsischen Sparkasse und der Landeshauptstadt ein monatliches Stipendium von 1500 Euro. Die Stadt sieht keinen Anlass, die Auszeichung der hochdekorierten Schriftstellerin rückgängig zu machen.
Im Mai diesen Jahres ist auf dem Portal „Rubikon“ von Kathrin Schmidt der Text „Weißkittel mit finsteren Plänen“ erschienen, in dem sie Corona-Impfungen von Kindern als „großangelegten Menschenversuch“ geißelt, ähnlich wie der emeritierte Mikrobiologe Sucharit Bhakdi, Autor des Buches „Corona – Fehlalarm?“ und Bundestagskandidat der Partei „Die Basis“ .
Schmidt wirft die Frage auf, ob der 1947 verabschiedete Nürnberger Kodex als Antwort auf Medizinverbrechen der Nazizeit mit Blick auf die Covid-19-Impfstrategie „zum Lippenbekenntnis verkommen“ sei. Schmidt versichert in dem Aufsatz: „Es liegt mir fern, das heutige Impfgeschehen mit den NS-Menschenversuchen gleichzusetzen, die ohne jede Rücksicht auf Leib und Leben von Kranken, Behinderten und vor allem KZ-Häftlingen vorgenommen wurden.“ Sie plädiert dann aber dafür, dass Vergleiche erlaubt sein müssten. Der Satz „Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erlangen Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern zurück“ erinnere mit seinem Drohpotenzial an überholt geglaubte gesellschaftliche Verhältnisse, schreibt sie. „Auch das ist keine Gleichsetzung. Wohl aber gestattet nur der Vergleich, die Lage auch historisch zu fassen.“
Nicht nur der Inhalt von Kathrin Schmidts Beitrag ist ein Statement, sondern auch die Veröffentlichung auf dem Portal „Rubikon“. Es hat sich in den vergangenen Monaten zur führenden Plattform für die querdenkennahe Szene entwickelt. Aktuell schaffte es der Arzt und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg mit seinem im Rubikon-Verlag erschienenen Buch „Falsche Pandemien“ sogar auf Platz eins der Paperback-Bestsellerliste des „Spiegels“ – obwohl seine Thesen als wissenschaftlich nicht haltbar gelten.
Im Januar schrieb der Publizist Michael Bittner, ebenfalls Jury-Mitglied für die Stadtschreiber:in-Auswahl in Dresden, im „Neuen Deutschland“, dass „Rubikon“ seit Beginn der Pandemie vor allem ein Organ sei, „in dem ,Corona-Skeptiker‘ gegen die vermeintliche ,Virus-Hysterie‘ anschreiben. Dabei seien die Fragen zu den Maßnahmen, deren sozialer Ausgewogenheit oder demokratischer Legitimität mehr als berechtigt. Sie dienten hier aber „nur als Köder, um Menschen in die Wahnerzählung von der ,Erfindung einer Epidemie‘ zu locken.“ Ausführlich zitiert auch Andreas Speit in seinem neuen im Ch. Links Verlag erschienenen Buch „Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus“ aus der Analyse von Bittner.
Bittner ist inzwischen ziemlich unglücklich über die Auswahl. „Als wir im September 2020 in der Jury Frau Schmidt zur Stadtschreiberin berufen haben, ahnten wir noch nichts vom ,Corona-Quark‘, den sie inzwischen verbreitet.” Schmidt sei eine renommierte Autorin, die Entscheidung der Jury an ihrem literarischen Schaffen orientiert gewesen: „Die Gedichte waren gut, ihr Projekt für Dresden interessant. Es gab keinen Grund irgendwie misstrauisch zu werden.“
Bittner sagt weiter: „Umso enttäuschter bin ich, dass Frau Schmidt nun offenbar das Amt der Stadtschreiberin benutzen möchte, um ,Querdenken‘-Propaganda zu verbreiten. Dazu muss die Stadtgesellschaft kritisch Stellung beziehen. Allerdings warne ich aktuell vor Diskussionen, Kathrin Schmidt das Amt der Stadtschreiberin wieder abzuerkennen. Das würde nur einen Opfermythos befördern.“
Eine geschätzte Autorin driftet ab in verschwörungsideologische Milieus. Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Linke) spricht mit Blick auf den Fall Schmidt von einem „Dilemma“. Sie hat sich inzwischen mit der neuen Stadtschreiberin getroffen und ihr, was die Frage eingeschränkter Meinungsfreiheit in Deutschland angeht, vehement widersprochen. Im vergangenen Jahr hatte sie die Auszeichnung für Schmidt mit den Worten begrüßt, diese sei „eine der herausragenden deutschen Gegenwartsdichterinnen“.
Nun hat Kathrin Schmidt als politische Akteurin für erhebliche Unruhe gesorgt. Die Stadtverwaltung veröffentlichte am Montag einen Appell an Schmidt und forderte sie auf, „das Amt der Stadtschreiberin als renommierte und sensible Autorin auszufüllen und nicht mit parteipolitischen Diskursen zu vermengen“. Zugleich lehnte es die Stadtverwaltung aber ab, „ein Stipendium, das in einem aufwendigen Auswahlprozess durch eine Jury vergeben wurde, aufgrund von nicht nachvollziehbaren, aber durch die Meinungsfreiheit gedeckten Äußerungen zurückzuziehen“.
Die Jury wird im Einvernehmen von Kulturverwaltung und Ostsächsischer Sparkasse eingesetzt.
Aber eines hat Schmidt mit ihren Äußerungen zur Coronapolitik doch erreicht. Klepsch schlug vor, „die unterschiedlichen Auffassungen insbesondere zur Coronapandemie in einem öffentlichen Diskurs mit anderen Autor:innen zu erörtern“.
So würden dann die Coronaverharmloser:innen doch noch eine weitere Bühne bekommen – quasi ergänzend zu den Protesten von Pegida und „Querdenken“. Typisch Dresden, möchte man sagen.
Foto: Dora Meisner