10. Juli 2023
Kolumne von Robert Fietzke
Im zehnten Jahr ihrer Existenz ist die AfD am vorläufigen Zenit. Bundesweite Umfragen sehen sie bei 20%, in Thüringen erreicht sie gar 34% und liegt damit 14 Prozentpunkte vor der zweitplatzierten CDU, im thüringischen Landkreis Sonneberg stellt sie ihren ersten Landrat und im sachsen-anhaltischen Raguhn-Jeßnitz ihren ersten hauptamtlichen Bürgermeister. Derzeit führt sie die Umfragen in 25% aller Bundesländer an: Sachsen, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis aus Umfragewerten konkrete Wahlsiege auf Landesebene werden. Auch der derzeitige Vorsprung der Union von sechs, sieben Prozentpunkten im Bund erscheint bei der derzeitigen Krisendynamik nicht uneinholbar. Diese Entwicklung macht vielen Menschen Angst – und das leider völlig zu Recht. Eine Beteiligung der AfD an echter politischer Gestaltungsmacht, an Regierungen, wäre der sichere Weg in die politische Hölle, denn Faschisten kündigen in aller Regel sehr offen an, was sie zu tun gedenken, wenn man sie lässt: „Ein paar Korrekturen und Reförmchen werden nicht ausreichen, aber die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt.“ (Höcke 2018)
Während die extreme Rechte es bei nahezu jedem gesellschaftlichen Thema schafft, den dazugehörigen Diskurs nach rechts zu verschieben, hat sich der Diskurs darüber, wie die AfD erfolgreich bekämpft werden kann, in den letzten acht Jahren kein Stück weiter entwickelt. Bei den Konservativen werden die Grünen zum Hauptfeind erklärt, CSU-Abgeordnete stimmen erstmalig AfD-Anträgen im Bundestag zu, Ampel-Verantwortungsträgerinnen markieren die Union als ursächlich für den Aufschwung, die Union spielt den Schuld-Bumerang zurück und markiert die Ampel-Koalition. CDU-Ministerpräsidenten wie Reiner Haseloff sehen in einer noch härteren und rigideren Abschiebepolitik die Lösung – wie hart darf es denn noch werden? – während sich die FDP geschlossen hinter den zutiefst anti-sozialen Austeritätskurs ihres Finanzministers stellt, der die ökonomische Krise noch weiter zuspitzen und damit viel Wasser auf die Mühlen der Faschisierung schütten wird. Noch immer hält sich das wissenschaftlich längst widerlegte Narrativ von der „Protestwahl“ hartnäckig. Indes wird Sahra Wagenknecht auch nach sieben, acht Jahren Dauerschallplatte nicht müde, AfD-Wählerinnen durch die Übernahme rechtspopulistischer Positionen und Ansprachen zurückgewinnen zu wollen. Und über die Rolle der Medien bei alledem, insbesondere von Springer und Co, ist hiermit noch nichts gesagt.
Von diesen elendigen Diskursschleifen, die in rezividierenden Bahnen verlaufen, geht am Ende nur ein hauptsächlicher Effekt aus: Die AfD wird weiter normalisiert. Berührungsängste fallen und spielen keine Rolle mehr, Markierungen als „rassistisch“ und „faschistisch“ stellen keine hinreichenden Hinderungsgründe mehr dar, sie trotzdem zu wählen, Einstufungen des Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ werden ignoriert oder gar als Adelung verstanden. Während sich das (halbwegs) demokratische Deutschland den Mund fusselig redet, welches Kraut denn gegen die AfD gewachsen sein könnte, haben sich die Anhänger der neuen faschistischen Bewegung in Deutschland längst darauf geeinigt, den Dauermissionierungs- und Dauermobilisierungsmodus bis zum „endgültigen Sieg“ (Höcke) durchzuziehen. Täglich lässt sich in den sozialen Medien und Alltagsgesprächen sehen, dass ihr Tatendrang „für die Sache“ überquillt. Nicht von ungefähr hat dieser Eifer etwas Soldatisches.
Es wäre falsch und töricht, zu behaupten, dass der Kampf gegen den bedrohlichen Aufstieg der AfD und ihres politischen Vorhofs einfach sei, aber es ist beileibe nicht so, als gäbe es nicht längst probate Mittel, Rezepte und Strategien, die wissenschaftlich fundiert sind und zum Teil längst erfolgreich angewandt werden. Ähnlich wie in der Corona- oder Klima-Politik werden die Warnungen und Analysen aus Wissenschaft und Praxis-Expertise zum Teil seit Jahren ignoriert. Stattdessen betreiben die meisten politischen Akteur*innen lieber unstrategisch Politik „aus dem Bauch“, quasseln längst widerlegte Thesen nach und merken dabei nicht, dass sie damit vor allem eines tun: Den Diskurs- und Resonanzraum für Deutungs- und Lösungsangebote von ganz Rechtsaußen zu erweitern.
Das beste Beispiel ist der Asyl-Diskurs. Seit über 35 Jahren versuchen Konservative, Liberale, Sozialdemokratinnen und nun auch Grüne, rassistische Ressentiments gegen Geflüchtete und Migrantinnen durch einen härteren Kurs in der Asyl- und Migrationspolitik einzuhegen. Der Asylkompromiss 1993, der direkt auf die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen folgte und die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl nach dem Grundgesetz vorsah, war eine politische Chimäre sondergleichen. Die Viralität und Explosivität des rassistischen Furors der Nachwendegesellschaft sollte mit der größtmöglichen Abwesenheit der Betroffenen dieses Furors gezähmt werden. Die Betroffenen des Pogroms von Hoyerswerda im September 1991 wurden nicht etwa entschädigt und geschützt mit besseren Aufenthaltstiteln, sondern abgeschoben. Dieser Versuch, Rassismus zu verplomben, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn Ressentiments und menschenfeindliche Ideologeme verschwinden nicht durch die Abwesenheit vermeintlich „fremder“ Menschen, sondern gedeihen in autochthonen Regionen sogar besonders gut. Obwohl es über diese Zusammenhänge sehr viel fundiertes Wissen gibt, wird der Politikansatz „Mehr Abschiebungen und mehr Härte in der Migrationspolitik minimieren den Erfolg rechtsextremer Parteien“ permanent wiedergekäut. Die tatsächliche Folge dessen ist, dass eine immer härtere Asyl-Politik völlig neue Milieus, die vor zehn Jahren noch nicht in Versuchung gerierten, einer faschistischen Partei ihre Stimme zu geben, mitbarbarisiert. Die EU-Ratsbeschlüsse zur Neuordnung der Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik (GEAS) sprechen hier Bände. Es braucht keine Faschisten in nationalen Regierungen, um das mörderische Asyl-System noch menschenfeindlicher, brutaler und mörderischer aufzustellen – als hätte es keinerlei Folgen für den universellen Wert menschlichen Lebens, wenn demokratische Regierungen selbst dafür sorgen, ihn in Frage zu stellen. Faschismus als spezifische Ideologie der Ungleichwertigkeit kann hier bestens an von Demokrat*innen etablierte Ideologeme der Ungleichwertigkeit anknüpfen und braucht die Früchte der ausgesähten Menschenbilder nur noch abzuernten.
Es gibt noch eine weitere Komponente im Asyl- und Migrationsdiskurs, die von pro-kapitalistischen Demokratinnen für gewinnbringend gehalten wird in der Auseinandersetzung mit der extremen Rechten: Der Versuch, (Flucht)Migration als nützlich für die Aufnahmegesellschaft zu beschreiben. Deutschland freut sich über „fremde kulinarische Spezialitäten“, „fremde Kulturen“ bringen „interessante Einflüsse“ mit, Deutschland braucht Fachkräfte. Fachkräfte, Fachkräfte, Fachkräfte! Exotisierung ist jedoch auch nur eine vermeintlich positive Spielart von Rassismus. Sie zementiert das vermeintliche Fremdsein und ist damit selbst eine Quelle der Entfremdung. Noch gefährlicher ist die Dauer-Unterscheidung in „nützliche“ und „nutzlose“ Migration. Welches Menschenbild soll denn dabei entstehen, wenn der Wert menschlichen Lebens permanent an ihrer ökonomischen Verwertbarkeit für die Aufnahmegesellschaft bemessen wird? Es ist auch jene neoliberale Verwertungslogik, die der Barbarisierung an der europäischen Menschenrechtsaußengrenze Vorschub leistet: Wessen Arbeitskraft verwertbar ist, kann mit Visum, Blue Card, Punktesystem entspannt einreisen, wessen Leben vermeintlich schlechter verwertbar ist, was angenommen wird, weil er auf einem Flüchtlingsboot vor der griechischen Küste in Seenot ist, der wird sterben gelassen. Oder aktiv getötet – und selbst das führt schon längst nicht mehr zu irgendeinem nennenswerten Aufschrei innerhalb der sogenannten „Europäischen Wertegemeinschaft“. Sozialdarwinismus wurde bereits erdacht, bevor es Faschismus überhaupt gab, war aber gleichsam eine zentrale Schlüsselideologie für den historischen Faschismus, der ihn lediglich konsequenter entwickelte. Heute, im Jahr 2023, mobilisieren demokratische Akteurinnen wieder fleißig rassistische Ressentiments, lassen sozialdarwinistische Schlussfolgerungen florieren und wundern sich dann, dass die noch konsequenter und brutaler gedachten Angebote von Faschisten auf fruchtbaren Boden fallen.
Es ist weit entfernt von Alarmismus, in dieser gesellschaftlichen Zuspitzung, in der wir uns gerade befinden, davon zu sprechen, dass die pluralistische Demokratie kurz vor dem Kipppunkt steht. Es ist allerhöchste Eisenbahn, sich wieder verstärkt mit ihren inneren Widersprüchen zu befassen, ganz im Sinne des vor 50 Jahren verstorbenen Max Horkheimer: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Der demokratische Diskurs sollte also viel eher darauf drängen, eigenes politisches Versagen anzuerkennen – System-Versagen ist hier ausdrücklich mitgemeint – statt sich die Bälle zwischen Regierung und demokratischer Opposition zuzuspielen. Ein radikales Eingeständnis der tiefen Folgen der Agenda-2010-Politik für die sozialen Deprivationserfahrungen vieler Menschen ist damit ebenso gemeint wie ein Aufräumen mit dem rechtspopulistischen Geblöke aus der liberalen und konservativen Ecke. Wer kollektiv feststellt „Auch wir haben mit unserer anti-sozialen Politik der letzten Jahrzehnte und unserer rechtspopulistischen Ansprache dazu beigetragen, dass sich menschenfeindliche Ressentiments ausdehnen konnten und gleichzeitig immer mehr Menschen jedes Vertrauen in die Politik verloren haben“, hat den ersten Schritt zu einem radikal anderen Politiksansatz getan, der es tatsächlich vermag, den Aufstieg des Faschismus aufzuhalten. Oder etwas salopper gesagt: Haltet öfter mal eure Klappe und hört zu, was linke Antifaschist*innen seit Jahren zu sagen haben. Bisher hatten sie mit all ihren Warnungen nämlich Recht. Leider.
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Foto: Robert Fietzke