27. April 2023
Von Matthias Meisner
Nach einem Dreivierteljahrhundert wird in Tschechien der Versuch unternommen, ein Massaker der Nationalsozialisten wieder verstärkt ins Gedächtnis zu rufen. Am vergangenen Sonntag wurde die rekonstruierte Gedenkstätte Ploština wieder eingeweiht, zusammen mit einem modernen Bildungszentrum. Es ist ein Ort in der mährischen Walachei, früher eine Siedlung von Holzfällern und Waldarbeitern ganz im Südosten des heutigen Tschechiens. Sie wurde wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkrieges von mehreren SS-Einsatzkommandos, darunter der berüchtigten Sondertruppe „Josef“, ausgelöscht. Ein – zu Unrecht – vergessener Ort.
Das abgelegene Ploština war seit 1944 zum Schlupfwinkel einer ukrainischen Partisaneneinheit geworden. Die Bewohner halfen den Partisanen, kochten, backten Brot, überwiegend jedenfalls. Im April 1945, die Rote Armee war schon in Reichweite, machten Verräter die Nazis auf das Versteck aufmerksam. Die SS rückte mit insgesamt etwa 200 bewaffneten Kämpfern, begleitet von Dutzenden Hunden, an, die beiden Spitzel mittenmang. Verhöre, Folter und Durchsuchungen sollten klären, wer den Partisanen geholfen hatte. Als das misslang, entschied sich die SS für „Kollektivschuld“. Sie steckte die Gebäude des Ortes an, die Siedler wurden in die Flammen hineingestoßen. 24 Menschen, darunter 23 Männer, starben, von den zehn Häusern Ploštinas blieben nur zwei übrig.
Vor einem Jahr berichtete Radio Prag ausführlich über die Geschichte von Ploština, jene Siedlung, die weit weniger bekannt ist als das mittelböhmische Lidice, das 1942 von den Nationalsozialisten als Vergeltung für das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich Ende Mai 1942 in Prag zerstört wurde – dort wurden 173 männliche Bewohner und damit fast alle ermordet.
Thematisiert wird von Radio Prag auch, wie die Geschichte von den kommunistischen Machthabern in der Tschechoslowakei instrumentalisiert wurde. Diese ignorierten die Schilderungen von Zeitzeugen, hielten einmal im Jahr eine Gedenkfeier ab und machten die Partisanen zu den Helden von Ploština, obwohl diese vor dem Überfall in die Berge geflüchtet waren und die Bewohner im Stich gelassen hatten. Es gab eben nur „die eine Wahrheit“, wie der heutige Bürgermeister von Vysoké Pole, Josef Zicha, berichtet. Radio Prag zitiert den Schriftsteller Jaroslav Pospíšil, der mehrere Publikationen zum Thema herausgebracht hat: Die Partisanen hätten „nicht nur zuschauen sollen, wie die unglücklichen Siedler endeten“, sagte er. Sie hätten sich eines „himmelschreienden“ Unrechts mitverantwortlich gemacht.
Eine weitere Volte: Einer der unmittelbaren Verantwortlichen für das Massaker von Ploština, Kurt Werner Tutter, stellvertretender Anführer der Einheit „Josef“, arrangierte sich mit dem kommunistischen Regime in der ČSSR. Er spionierte nach dem Krieg von Deutschland aus für die Kommunisten. Und war damit nicht der einzige SS-Mann, den die Tschechoslowakei als Agenten im Westen nutzte. Bis zu seinem Tod 1983 habe Tutter unbehelligt in Deutschland gelebt, heißt es bei Radio Prag. Die Aufarbeitung der Verstrickungen des Kriegsverbrechers begann demnach erst 1989.
Es ist nicht so, dass die Geschichte von Ploština in der kommunistischen ČSSR völlig totgeschwiegen wurde. Aber sie wurde eben auch vielfach verzerrt. Der Schriftsteller Ladislav Mňačko machte das Massaker von Ploština 1959 zum Thema seines Romans „Der Tod heißt Engelchen“. Die Barrandov-Studios in Prag machten 1963 einen Film daraus, der in der DDR von der DEFA synchronisiert wurde. In der Romanhandlung wird Tutter als Geigenbauer aus Klingenthal im Vogtland ausgegeben. War die dem Kriegsbrecher in literarischer Form zugeschriebene ganz andere Herkunft beabsichtigt?
Tutter stammt aus Prag. 1909 wurde er im Stadtteil Smíchov geboren. Die letzten Jahre seines Lebens war er angesehener Bürger von Kötzting. 2021 erinnert die „Kötztinger Zeitung“ unter der Überschrift „Tatort Ostbayern: Brauner Mörder, roter Spion“ an seine Geschichte: „Kötzting trauert. Der Stadtrat Kurt Werner Tutter ist gestorben. Mit ihm verliert die Stadt im Landkreis Cham einen engagierten Bürger: fünf Jahre CSU-Stadtrat, evangelischer Kirchenvorstand, Vorsitzender des Ortsverbands der Sudetendeutschen und Leiter der Volkshochschule. Viele kommen zur Beerdigung und weinen, erzählen Augenzeugen. Es ist März 1983. Die Kötztinger wissen nicht, dass sie um einen NS-Kriegsverbrecher, Massenmörder und Spion der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) trauern.“
Tutter sei zu Lebenszeiten „so kleinbürgerlich“ dahergekommen, hieß es in der fast vier Jahrzehnte nach seinem Tod erschienenen Reportage. Aber wussten die Kötztinger wirklich nichts über die erbärmliche Rolle ihres Mitbürgers – oder wollten sie es nicht wissen?
Ploština, die Aufarbeitung des Massakers, bedeutete in vieler Hinsicht über Jahre auch das: Geschichtsvergessenheit. Radio Prag vergleicht die Aufarbeitung der Verbrechen des SS-Manns Tutter mit den Bemühungen um eine angemessene Erinnerungskultur in Ploština. Die Gedenkstätte in Ploština war 1975 entstanden, 1978 erhielt sie den Status eines nationalen Kulturdenkmals. Das zu kommunistischer Zeit errichtete Denkmal mit vier spitz zulaufendenden Betonpfeilern stellt züngelnde Flammen dar, die aus der Vogelperspektive einen fünfzackigen Stern bilden, dem Sowjetstern angelehnt. Ideologisch im Mittelpunkt der „Erinnerungsarbeit“ sollte der Kampf gegen den Faschismus stehen.
Erst seit ein paar Jahren gibt es in Ploština eine besondere Form des Gedenkens am Jahrestag des Massakers. Im April 2019 ertönte aus einer Lautsprecheranlage auf dem Gelände erstmals ein leichtes Klopfen, das den Herzschlag der Opfer von Ploština und weiteren zwölf Gemeinden der mährischen Walachei symbolisieren soll, die von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurden. Es wurde auch in den regionalen Radioprogrammen übertragen. Das von zwei Studenten der Universität in Zlín, Vařákových Pasek und Juříčkova Mlýna, erdachte Projekt soll nach deren Worten an die Tragödie auf eine Weise erinnern, „die klarer ist als alle feierlichen Reden“.
Beim Gedenken am vergangenen Wochenende sagte der Gouverneur der Region Zlín, Radim Holiš, die Gedenkstätte in Ploština sei nicht gebaut worden, um dort bloß einmal im Jahr zusammenzukommen. In der Tragödie von 1945 stecke auch eine Mission für die Zukunft. Die Rekonstruktion der Gedenkstätte, die verstärkte Aufmerksamkeit für das Massaker, sei auch wichtig, um der jungen Generation das schreckliche Kapitel zu öffnen – in der Hoffnung, dass sie daraus lerne.
Zlín, die Bezirksstadt, trägt übrigens erst wieder seit 1990 ihren angestammten Namen. 1949 war sie umbenannt worden in Gottwaldov, zu Ehren des stalinistischen Diktators Klemens Gottwald. Für „Der Tod heißt Engelchen“ hatte Romanautor Mňačko, im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Partisanenbewegung und später überzeugter Unterstützer des kommunistischen Regimes, 1964 den Klemens-Gottwald-Staatspreis erhalten. Auch Mňačko zeigte Einsicht: In den sechziger Jahren richtete er seinen Fokus mehr und mehr auf die Aufarbeitung des Stalinismus, verurteilte die sowjetische Invasion 1968 und floh nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nach Österreich.