06. November 2022
Kolumne von Ruprecht Polenz
Aus gutem Grund ist es strafbar, den Holocaust zu leugnen. Wer den Völkermord an den Jüdinnen und Juden öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost, wird mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, so § 130 Abs. 3 StGB. Voraussetzung für die Strafbarkeit ist, dass dadurch der öffentliche Frieden gestört werden kann.
Das geschützte Rechtsgut ist die Würde der Opfer und ihrer Angehörigen. Deren Würde wäre massiv verletzt, wenn ihr Schicksal geleugnet würde. Gerade Deutschland ist besonders dazu verpflichtet, alles zu tun, damit das nicht geschieht.
Das rechtfertigt auch eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, die von Art. 5 des Grundgesetzes geschützt wird.
Jetzt hat der Bundestag eine Ausweitung des Volksverhetzungs-Paragrafen beschlossen. Der neue Absatz 5 von § 130 StGB betrifft ganz allgemein – ohne Beschränkung auf Deutschland – Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
In Deutschland wird es künftig auch strafbar sein, Kriegs- und Menschheitsverbrechen zu leugnen oder „gröblich“ zu verharmlosen, die in anderen Weltregionen stattfanden. Weitere Voraussetzung ist, dass die Person damit auch zu Hass oder Gewalt aufstacheln oder den öffentlichen Frieden stören kann. Es drohen bis zu drei Jahre Haft.
Auf den ersten Blick kann eigentlich niemand etwas dagegen haben. Warum soll nicht bestraft werden, wer solche Lügen verbreitet und damit hetzt? Das dachten sich wahrscheinlich die Bundesregierung und die Abgeordneten von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU, die das Gesetz ohne öffentliche Debatte spätabends im Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen haben.
Aber beim genaueren Hinsehen ist die Gesetzesänderung unausgegoren und wird die Gerichte vor erhebliche Probleme stellen. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
„Der Bundestag hat ein absurdes Gesetz verabschiedet: Über Tatbestände wie den des „Kriegsverbrechens“ befindet in der Regel der Internationale Strafgerichtshof. Diese Verfahren vor dem internationalen Strafgerichtshof dauern Jahre und sind hochkomplex. Nun soll das jeder deutsche Amtsrichter tun“, kritisierte die FAZ
Diese Probleme wären vermeidbar gewesen, wenn der Bundestag öffentliche Anhörungen mit Strafrechtsexpert:innen und Historiker:innen durchgeführt hätte. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit für ein Gesetz, mit dem ein so wichtiges Grundrecht wie die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden soll.
Aber der Bundestag sah sich zeitlich unter Druck. Seit 2008 hatten es alle Justizminister:innen versäumt, einen Rahmenbeschluß der EU zur „strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ umzusetzen.
Daraufhin hatte die EU-Kommission im Dezember 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren angestrengt.
Anders als es nach dem EU-Rahmenbeschluss möglich gewesen wäre, hat sich der Bundestag nicht auf solche historischen Völkerstraftaten beschränkt, die zuvor „ein nationales oder internationales Gericht rechtskräftig festgestellt“ hat. (vgl. Art. 1 Abs 4 Rahmenbeschluss)
Das wird besondere Schwierigkeiten machen. Für Anklagen wegen des neuen § 130 Abs. 5 StGB werden die Amts- oder Landgerichte zuständig sein. Sie müssen sich mit komplizierten Tatsachen- und Rechtsfragen zu Völkerverbrechen herumschlagen, die selbst den Internationalen Gerichtshof vor Schwierigkeiten stellen.
Soll die Leugnung des Völkermords an den Armenier:innen 1915 geahndet werden, die in Teilen der türkeistämmigen Bevölkerung verbreitet ist? Die Sache scheint auf den ersten Blick klar: wer den Völkermord an den Armenier:innen leugnet, macht sich strafbar. Aber ein Fall aus der Schweiz, der letztlich durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden wurde, zeigt dass das nicht so eindeutig ist.
Der türkische Politiker Dogu Perinçek hatte 2005 in Lausanne, Opfikon und Köniz in öffentlichen Vorträgen die Einstufung der Massaker als Völkermord an den Armenier:innen in den Jahren 1915 bis 1917 als «internationale Lüge» bezeichnet.
Das Lausanner Bezirksgericht und später das Bundesgericht sprachen Perinçek schuldig. Dieser akzeptierte das Urteil nicht und gelangte an den EGMR
Die Grosse Kammer des EGMR kam in ihrem abschliessenden Urteil vom 15. Oktober 2015 zum Schluss, dass die strafrechtliche Verurteilung von Dogu Perinçek in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig ist. Die Aussagen sind durch die Meinungsäusserungsfreiheit geschützt, „obwohl sie die Identität und Würde der Mitglieder der armenischen Gemeinschaft tangieren. Doch es sei nicht das Ziel des türkischen Politikers gewesen, Hass gegen die Armenier zu säen“, so der EGMR
Grundsätzlich muss „historische Wahrheit“ Gegenstand öffentlicher Debatte sein. Auch „unwahre“ Behauptungen müssen prinzipiell straffrei sein, wenn die wissenschaftliche historische Wahrheitssuche nicht beeinträchtigt werden soll. Wegen des gesetzgeberischen Hau-Ruck-Verfahrens bleibt im Augenblick nur der Appell an die Gerichte, den neuen Tatbestand so restriktiv wie möglich auszulegen.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP