28. November 2021
Kolumne von Robert Fietzke
Die vierte Welle der Pandemie überrollt Deutschland in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Jeden Tag gibt es einen neuen Rekordwert. An jedem Tag seit über zwei Wochen wird der Rekordwert des vorherigen Tages gebrochen. Sechsundsiebsigtausendvierhundertvierzehn. In einigen Regionen ist das Gesundheitswesen inzwischen längst kollabiert. Patient*innen müssen mit Bundeswehr-Maschinen in andere Bundesländer geflogen werden und Kliniken in den Hot-Spot-Regionen bereiten sich auf Triage vor – All das in einem der reichsten Länder der Erde mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt. Wie konnte es zu dieser beispiellosen Neu-Eskalation der Pandemie kommen?
Die Krisen-Kommunikation ist in jedem Katastrophenfall Schlüssel und Achillesferse zugleich. Gelingt sie, verewigen sich die Krisen-Managerinnen in den Geschichtsbüchern und Gedächtnissen der Menschen als Heldinnen. Misslingt sie jedoch, kann das fatale, im schlimmsten Falle sogar tödliche Folgen haben. In Deutschland ist sie, so viel steht inzwischen fest, gründlich misslungen. Die Folgen sind genauso messbar, wie die Dynamik des Infektionsgeschehens modellierbar ist. In dieser Woche verstarb der 100.000 Mensch in Deutschland am Coronavirus, was erschreckenderweise nur zur Randnotiz gereichte. Ist das Sterben einer mit Städten wie Hildesheim oder Leverkusen vergleichbaren Zahl an Menschen in nur eineinhalb Jahren schon so normal geworden? Zudem ist die Impfquote nach fast einem Jahr und trotz ausreichenden Impfstoff-Angebots viel zu niedrig, weswegen die Delta-Variante dort, wo die Quoten besonders niedrig sind, besonders leichtes Spiel hat. Den politischen Verantwortlichen dämmert nun so langsam, dass das Kind in einigen Regionen bereits in den Brunnen gefallen sein dürfte, weswegen sie entgegen ihrer feierlichen „Es wird keine Impfpflicht geben“-Beteuerungen nun doch offen darüber diskutieren. In der gegenwärtigen Lage ist das zwar nachvollziehbar und vielleicht auch unumgänglich, aber kommt eben auch einer kommunikatorischen Bankrotterklärung gleich, die wiederum den Pandemieleugner*innen und ihrem parlamentarischen Arm neues Futter für Verschwörungsmythen gibt. Apropos AfD, es ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen, dass es nicht nur eine Korrelation zwischen starken AfD-Zustimmungswerten, niedrigen Impfquoten und starker Verbreitung des Virus gibt, sondern einen Kausalzusammenhang.
Das zentrale Problem der Krisen-Kommunikation ist, dass sie von Anfang an politisch aufgeladen war, sich also an spezifischen Part(e)ikularinteressen sowie am gesellschaftlichen Diskurs orientierte, statt sich voll und ganz auf die beiden wichtigsten Ziele zu konzentrieren: Die Senkung der Fallzahlen und die Steigerung der Impfquoten.
Statt sich aber bei jeder Äußerung zum Pandemiemanagement voll und ganz auf diese Ziele zu fokussieren, entwickelte sich sogar ein Diskurs über den Sinn und Zweck der wichtigsten Maßeinheit, der Inzidenz. Verschiedene politische Akteur*innen trommelten nach der dritten Welle lautstark für die Abschaffung der Inzidenz als Haupt-Indikator zur Beurteilung der Pandemie-Lage. Im August – zu diesem Zeitpunkt befand sich Deutschland bereits im Anstieg zur vierten Welle – schaffte das grün-schwarz regierte Baden-Württemberg als erstes Bundesland die Inzidenz als ordnungspolitischen Richtwert ab. Am 7. September folgte dann der Bundestag. Die Bundesregierung erklärte: „Mit zunehmender Durchimpfung der Bevölkerung ändert sich die Aussagekraft der Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen. Künftig wird daher wesentlicher Indikator für die Entscheidung über Schutzmaßnahmen, die die Ländern gemäß § 28a des Infektionsschutzgesetzes treffen können, vor allem die Hospitalisierungs-Inzidenz sein.“
Das Problem ist nur: Die Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht „durchgeimpft“. Die Folgen dieser Entscheidung sehen wir nun in drastischer Weise. Dank dem RKI wurde die Inzidenz zwar weiterhin regelmäßig erfasst, aber eben nicht mehr ernst genommen, genausowenig wie die Warnungen, die die führenden Virologinnen und Epidemiologinnen seit Juli regelmäßig verlauten ließen. Nun gehen die Inzidenzen seit Oktober wahrlich durch die Decke, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen unter 12, für die es noch keinen Impfschutz gibt. Wo vormals Alarmglocken bei Werten ab 50 schrillten, zucken nun Schultern bei 500. Die Folgen der stetig steigenden Inzidenzwerte sind jedoch genau dieselben wie schon in den letzten Wellen: Vermehrte Quarantäne, steigende Hospitalisierungen, kritische Belastung des Gesundheitswesens, Anstieg der Todeszahlen. Mit dieser Kommunikationsleistung, den Inzidenzwert als wichtigen, zentralen Messwert in Frage zu stellen, haben die Entscheidungsträger*innen also selbst dazu beigetragen, das Virus auch bei hohen Inzidenzen weniger ernst zu nehmen, ganz nach dem Motto „Was ich nicht mehr messe, existiert auch nicht.“
Ein weiteres Kommunikations-Desaster knüpfte nahtlos daran an: Die Aufhebung des Status „epidemische Notlage nationaler Tragweite“ durch die neue Ampel-Koalition. Noch vor wenigen Wochen schwadronierten FDP-Politiker*innen über einen „Freedom Day“, ungeachtet dessen, dass die vierte Welle schon seit Wochen durch das Land rollte. Volker Wissing, Generalsekretär, Christian Linderns rechte Hand und künftiger Bundesverkehrsminister beschwichtigte vor gerade mal drei Wochen sogar „Unser Gesundheitssystem ist stabil, die Gesundheitsversorgung der Bürger ist gesichert“. Die Aufhebung dieses Status, der dem Bund mehr Kompetenzen zur Pandemiebekämpfung gibt, steht dabei in derselben symbolpolitischen Logik wie die Abschaffung der Inzidenz. Die hastigen Nachbesserungen am Infektionsschutzgesetz und die kommunikatorischen Rettungsversuche der künftigen Ampel-Koalitionäre, zum Beispiel darauf zu verweisen, dass die Bundesländer weiterhin einen „umfangreichen Maßnahmenkatalog“ zur Verschärfung hätten, konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kommunikations-Katastrophe längst geschehen war. Für einen Teil der Bevölkerung kam als Hauptbotschaft an „Die Pandemie ist eigentlich vorbei, Leute.“
Die konsequente Verharmlosung der Gefährlichkeit des inzwischen mehrfach mutierten und damit noch gefährlicher gewordenen Virus zeigt sich vor allem aber auch bei der Kommunikation mit oder vielmehr über Kinder und Jugendliche. Die Inzidenzen in diesen Altersgruppen sind erwartbar höher als in anderen Kohorten. In vielen Regionen betragen sie das Doppelte oder Dreifache des Durchschnittswerts. Trotz des Wissens, dass das Virus von „unten“ nach „oben“ weitergegeben wird, also eben nicht in den Schulen oder bei den Schülerinnen verbleibt, sondern Mitschülerinnen, Lehrer*innen, Eltern und auch Großeltern angesteckt werden, sind Schul-Schließungen inzwischen ein Tabu, auch wenn sie epidemiologisch enorm effektiv sind und Zehntausende Leben retten könnten.
Von Anfang an setzte sich in der politisch-gesellschaftlichen Kommunikation die Diskurs-Position „Das Virus ist für Kinder und Jugendliche eigentlich so gut wie gar nicht gefährlich“ durch. Dieses Narrativ wurde nicht nur von zwielichtigen Virologen und Bildungsministerinnen kolportiert, sondern auch von der STIKO und Kinderärztinnen. Die Tatsache, dass eine unkontrollierte Durchseuchung der Kindertagesstätten und Schulen nicht nur rein mathematisch eine massive Steigerung der Todeszahlen unter Kindern mit sich bringen wird, hatte dabei ebenso wenig Priorität wie die monströse Zahl an Kindern mit Long-Covid-Symptomen, die so schwerwiegend sein können, dass ihnen jede Lebensqualität genommen wird. Und wer interessiert sich eigentlich für die psychische Gesundheit der über 2000 Kinder, die in den ersten Wellen zu Halbwaisen geworden sind?
Spätestens mit der zweiten Welle setzten sich im politischen Diskurs also jene Kräfte durch, die das Virus für Kinder zum harmlosen Schnupfen verklärten. Besonders perfide waren dabei die mit viel Pathos und Pseudo-Betroffenheit vorgetragenen Appelle, man wolle nie wieder zulassen, dass Kinder nicht zur Schule gehen könnten – Als ginge es wirklich um Bildung und nicht darum, dass der Staat vor allem sicherstellen möchte, dass die Eltern ungestört zur Arbeit gehen können. Denn ginge es um Bildung, hätte der Staat ja massiv in Luftfilteranlagen, bessere Hygienekonzepte und Digitalisierung investiert.
Für viele Kinder, ihre Eltern, aber auch die Lehrer*innen ist die unkontrollierte Durchseuchung der Schulen der blanke Horror. Viele spüren wahrscheinlich zum ersten Mal, welche Macht von Sachzwängen ausgeht und wie ohnmächtig sich Menschen gegenüber den Regierenden fühlen können, die das trotz lautester Kritik einfach laufen lassen. Insofern ist die Lesart „Der Politik sind Kinder völlig egal“ völlig nachvollziehbar. Mit der weder angekündigten noch demokratisch legitimierten Politik der unkontrollierten Durchseuchung hat die herrschende Politik geradezu darum gebettelt, dass weite Teile der Bevölkerung inzwischen keinerlei Erwartungen mehr an sie haben und sogar die Vernünftigen das Vertrauen verlieren.
Eine der fatalsten kommunikatorischen Fehlleistungen dürfte gewesen sein, die Coronaleugner-Bewegung in den ersten Wellen am demokratischen Bankett zu begrüßen, als sei die dort formulierte „Kritik“ in gewisser Weise legitim. Von Anfang an wurde die Bewegung verharmlost, verniedlicht und manchmal wurde ihnen sogar die Hand gereicht. Erst, als sie die Treppen des Reichstags mit wehenden Reichskriegsflaggen stürmen wollten, entstand eine leise Ahnung über das Gefährlichkeitspotential dessen, was da heran wächst. Diese Ahnung schlug sich aber leider nicht in konkreten politischen Maßnahmen nieder. Es gibt nach wie vor kein Konzept und keine Strategie, diese Bewegung zurückzudrängen und ihre Aktionsräume einzuschränken. Es gibt keinerlei ganzheitlichen Ansatz zur Bekämpfung von Verschwörungsideologien. Eigentlich ist es wie bei jeder anderen extrem rechten Bewegung: Der Staat schaut zu, lässt gewähren oder beteiligt sich sogar unterstützend, außer es gibt antifaschistische Gegenwehr, dann wird er aktiv und mobilisiert sein Gewaltmonopol.
Es ist wohlfeil und trivial, sich über die Verantwortungslosigkeit der Ungeimpften zu empören, zumal es sich bei ihnen um keine homogene Gruppe handelt. Diese Verantwortungslosigkeit, der Egoismus, all das ist ganz sicher auch empörenswert. Es ist eben aber auch Produkt politischer Fehl-Kommunikation, angefangen von den permanenten Kurzschluss-Handlungen des Bundesgesundheitsministers, die das ohnehin viel zu geringe Vertrauen in die vorhandenen Impfstoffe noch weiter untergruben, bis hin zum nicht enden wollenden „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“-Geschwafel, was ja nichts anderes bedeutet, als sich an das Massensterben zu gewöhnen. Vielleicht meinte Jens Spahn das mit seinem Ausspruch „Wir werden viel verzeihen müssen“.
Die deutsche Pandemie-Politik, die von Anfang an „Eigenverantwortung“ als zentralen Topos des Pandemie-Managements in den Mittelpunkt allen Handelns stellte und nicht etwa „Solidarität“ oder „Gemeinschaftssinn“, hat damit die Grundlagen für das eigene Scheitern geschaffen. Die Krisen-Kommunikation hat also selbst dazu beigetragen, dass relevante Teile der Bevölkerung den Fahnen falsch verstandener „Freiheit“ hinterher rannten und bisher keinen Sinn darin sahen, sich impfen zu lassen. Mit der Neujustierung des Infektionsschutzgesetzes hat die baldige Ampel-Koalition die Bedingungen noch zusätzlich verschlimmbessert, denn nun spielt sich der Diskurs um die richtige Corona-Politik wieder zwischen 16 Bundesländern, 16 Interessenshegerinnen und 16 Ministerpräsidentinnen ab. Einige von ihnen bereiten sich bereits auf ihre eigenen Landtagswahlen im nächsten Jahr vor, während die Ampel bei über 75.000 Neuinfektionen erst mal zehn weitere Tage abwarten und „beobachten“ will, ob das mit dem exponentiellen Wachstum wirklich stimmt. Omikron reibt sich schon die Hände.
Magdeburg, November 2021
Foto: Robert Fietzke