29. August 2023
Kolumne von Özge Inan
Die Süddeutsche Zeitung hatte sich das vermutlich anders vorgestellt. „Man sollte nicht mit dem Flugblatt anfangen, nicht mit dem ‚Vergnügungsviertel Auschwitz‘ und dem antisemitischen Wahnsinn“: so beginnt ein Text, der die Karriere von Hubert Aiwanger beenden sollte. Die Süddeutsche ist an ein Flugblatt gelangt, dass Bayerns stellvertretender Ministerpräsident und Parteivorsitzende der „Freien Wähler“ als Schüler verfasst haben soll. Darin ist von einem „Bundeswettbewerb“ die Rede, wer der „größte Vaterlandsverräter“ sei, die ausgeschriebenen Preise: Konzentrationslager, Genickschuss, Gestapokeller, Massengrab. Der Verfasser hat offenbar Wert darauf gelegt, martialisch zu klingen, schockierend. Am Tag nach der Enthüllung meldete sich Aiwangers älterer Bruder zu Wort, er habe das Pamphlet damals verfasst.
Jetzt wird der Süddeutschen schlechter Journalismus vorgeworfen, durchaus auch von ernstzunehmenden Stimmen. Aus München wehrt man sich, drei Mal habe man Aiwanger mit den Vorwürfen konfrontiert, den Bruder habe er kein einziges Mal erwähnt. Gewusst hat er es nach eigener Aussage schon vorher, es sei nur nicht seine Art, andere zu „verpfeifen“. Auch nicht, wenn es um die Verherrlichung von Naziverbrechen geht.
Aiwanger ist weiterhin im Amt, es sieht nicht aus, als würde sich das ändern. Dabei hatte die Süddeutsche eine „Wucht“ verheißen, „mit der die Welle nun brechen könnte“, die der 52-Jährige gerade reitet. Woher der Irrtum? Liegt es wirklich nur daran, dass die SZ nicht mit dem Bruder gerechnet hat?
Die eigentliche Fehlkalkulation lag woanders. Man hatte die Bereitschaft dieser Gesellschaft unterschätzt, wegzusehen. Zu entschuldigen. Schon bevor die Geschichte mit dem Bruder die Runde machte, forderten erste Stimmen, die Vergangenheit ruhen zu lassen – in guter deutscher Tradition. Danach war ohnehin alles vergeben und vergessen. Die neuen Schurken der Geschichte waren die Journalisten – die, von einer gewissen sprachlichen Hybris abgesehen, nichts falsch gemacht hatten. Kurt Tucholsky wusste es schon vor hundert Jahren: „In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.“
Foto: Timo Schlüter