05. September 2021
Kolumne von Ruprecht Polenz
War alles umsonst? Das fragen sich jetzt nicht nur viele der 160.000 Soldat:innen der Bundeswehr, die in den letzten 20 Jahren in Afghanistan eingesetzt gewesen sind. Auch die tausende Mitarbeiter:innen deutscher Hilfsorganisationen, die Schulen, Krankenhäuser oder Landwirtschaftsprojekte betreut haben, wissen nicht, was davon übrig bleibt, nachdem die internationalen Truppen Hals über Kopf das Land verlassen haben.
Als Abgeordneter habe ich die Afghanistan-Einsätze der Bundeswehr von 2001 bis 2013 parlamentarisch mit genehmigt und politisch begleitet. Diese Entscheidungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte und die jährlichen Mandatsverlängerungen waren die schwierigsten, die ich als Abgeordneter zu treffen hatte. Denn die Einsätze waren gefährlich für Leib und Leben unserer Soldat:innen.
Ich habe mich deshalb immer gefragt, ob ich Angehörigen gegenüber meine Entscheidung begründen könnte, wenn der Vater oder die Schwester bei dem Einsatz verwundet worden oder gar gefallen wären.
Als das in Münster stationierte Deutsch-Niederländische Korps in Afghanistan das Hauptquartier der ISAF-Truppen stellte, war ich dabei, als sich die Soldat:innen von ihren Familien und Freunden verabschiedeten. Vier, manchmal sechs Monate der Trennung vor sich. Hoffentlich gab es in dieser Zeit keine Nachrichten aus Afghanistan in der Tagesschau. Denn es wurde meist nur dann berichtet, wenn etwas Schlimmes passiert war.
Notwendige Bekämpfung des internationalen Terrorismus
Ich habe dem Afghanistan-Einsatz im Bundestag zugestimmt. Es war notwendig, nach dem 11. September 2001 dem internationalen Terrorismus entgegenzutreten, auch für die Sicherheit in Deutschland.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beurteilte die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon als „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ und bewertete sie als bewaffneten Angriff im Sinn der Art. 39 und 51 der UN-Charta (Resolution 1368 vom 12.09.2001). Die NATO stufte die Vorgänge als Angriff auf einen Mitgliedsstaat ein und rief den Bündnisfall aus (Art. IV NATO-Vertrag).
Der damalige Bundeskanzler Schröder (SPD) versicherte die USA der „uneingeschränkten Solidarität“ Deutschlands. Verteidigungsminister Struck (SPD) erklärte im Bundestag, dass „Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt“ werde.
Dieser Satz ist später oft kritisiert worden. Ich halte ihn nach wie vor für richtig, wie die Terroranschläge in den Jahren danach gezeigt haben: 2004 Madrid (191 Tote, 1.800 Verletzte), 2005 London (41 Tote, 770 Verletzte). 2006 versuchter Bombenanschlag auf zwei Züge in Köln, 2007 versuchter Anschlag mit 700 kg Sprengstoff auf den Flughafen Frankfurt. Diese und viele andere Anschläge hat Al Quaida verübt.
Dass man dem internationalen Terrorismus mit einem internationalen Bündnis entgegentreten muss, auch um der eigenen Sicherheit willen, haben nicht nur nahezu alle europäischen Staaten so gesehen, sondern auch Kanada, Australien, Neuseeland, Singapur und die Mongolei. Über 50 Staaten stellten Truppen für ISAF.
Dieser Einsatz war nicht umsonst. Al Quaida wurde entscheidend geschwächt. Beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus war der Westen erfolgreich.
Aber warum ist man so lange geblieben? Warum hat man versucht, so wird kritisch gefragt, Afghanistan unsere Vorstellungen von Demokratie überzustülpen?
An den Anschlägen vom 11. September war kein einziger Afghane unmittelbar beteiligt. Aber alle beteiligten Araber waren von Al Quaida in Afghanistan für die Anschläge ausgebildet worden. Bin Laden hat sie von Afghanistan aus gesteuert. Er war dorthin zurückgekehrt, nachdem der Sudan kein sicheres Rückzugsgebiet für Al Quaida mehr war.
Wenn Afghanistan nicht über kurz oder lang erneut Zufluchtsort für internationalen Terrorismus werden sollte, musste das Land stabilisiert werden. Denn Afghanistan war ein zerfallenes, von Krieg und Bürgerkrieg über dreißig Jahre tief gezeichnetes Land.
Seit 1973 Krieg und Bürgerkrieg
Es blickte seit 1973, dem Militärputsch von Daoud gegen die Republik, auf eine Geschichte von Blut und Gewalt zurück: die brutale Unterdrückung der Islamisten durch die kommunistische Regierung, deren gewaltsame Absetzung, der Einmarsch der Sowjetunion 1979. Allein der Krieg gegen die Sowjetunion forderte 1 Million Tote sowie 1,5 Millionen Verwundete und trieb 5 Millionen Afghan:innen über die Grenzen nach Pakistan und Iran.
Nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 erneut Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Gruppen der Mudschaheddin. 1996 erobern die Taliban Kabul.
Nach der Anarchie des Bürgerkriegs waren sie zunächst als Ordnungsmacht von der Bevölkerung begrüßt worden. Aber bald stellte sich ihr Verständnis von islamischem Recht (Scharia) als grausame Unterdrückung heraus.
Seit 1996 Schreckensherrschaft der Taliban
Öffentliche Hinrichtungen und Steinigungen im Stadion von Kabul. Frauen durften nur in Begleitung ihres Mannes das Haus verlassen und mussten eine Burkha tragen. Lackierte Fingernägel konnten eine Auspeitschung auf offener Straße zur Folge haben. Mädchen war Schulbesuch untersagt. Bei Männern mußte der Bart lang genug sein. Musik war verboten genauso wie das Steigen lassen von Drachen.
Aber es war nicht diese Schreckensherrschaft, die Grund war für die militärische Intervention. Hätte Mullah Omar, der Führer der Taliban, Osama bin Laden an die USA ausgeliefert, hätte es den militärischen Einsatz des Westens nicht gegeben.
Trotz großer Anstrengungen und riesiger Geldsummen ist es in den vergangenen 20 Jahren nicht gelungen, Afghanistan so zu stabilisieren, dass alle im Land in Frieden und Sicherheit leben können und der afghanische Staat in der Lage ist, dafür zu sorgen. Afghan ownership konnte nicht erreicht werden. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer zieht eine lesenswerte erste Bilanz.
Zwanzig bessere Jahre seit 2001…
Trotzdem waren die letzten 20 Jahre für die Afghan:innen eine bessere Zeit als die dreißig Kriegsjahre davor. Man hat sich eine Verfassung gegeben. Es gab Wahlen. Mädchen konnten in die Schule gehen und Frauen zur Universität. Es gab unabhängige Medien, neue Krankenhäuser und eine deutliche Verringerung der Kindersterblichkeit.
Ich fürchte, in einigen Jahren werden sich die Afghan:innen mit großer Wehmut an diese 20 Jahre erinnern, in denen auch die Soldat:innen der Bundeswehr und die deutschen Hilfsorganisationen im Land dazu beigetragen haben, dass sie einigermaßen sicher leben konnten.
… aber keine Stabilisierung des afghanischen Staates
Denn das innerafghanische Konfliktpotential ist ja mit der Machtergreifung der Taliban nicht verschwunden: die Rivalitäten zwischen Pashtunen, Tadschiken, Usbeken, Hasara. Die Warlords mit ihren vielen Waffen. Die Drogenökonomie und die organisierte Kriminalität. Die überall grassierende Korruption. Der Rohstoff-Reichtum als zusätzlicher Sprengstoff angesichts schwacher Staatlichkeit. Die bittere Armut einer zu 80 Prozent in der Landwirtschaft beschäftigten Bevölkerung.
Auch von außen gibt es Konflikte. Afghanistan wird weiter eine Rolle spielen in der Rivalität zwischen Pakistan und Indien und angesichts der Interessen von China und Russland.
Der Bürgerkrieg wird zurückkehren
Die Taliban sind keine homogene Gruppe. Viel spricht dafür, dass es bald zu Machtkämpfen kommen wird zwischen ihrem „moderateren“ Flügel, ihren radikalen Rängen, den ungebildeten Fußtruppen sowie Tausenden ins Land strömender islamistischer Kämpfer, unterschiedlichen Terrorgruppen und Netzwerken.
Neben den Ortskräften und ihren Familien sind die Afghanen besonders gefährdet, die sich für die Demokratisierung ihres Landes eingesetzt haben: als Menschenrechtsaktivist:innen, Lehrer:innen, Richter:innen, Künstler:innen. Frauen, die sich am öffentlichen Leben beteiligt haben, müssen Schlimmes von den Taliban fürchten.
Unsere Verantwortung endet nicht mit dem Abzug
Sie wollten ein Afghanistan, das die Menschenrechte achtet und die Sicherheit seiner Einwohner:innen garantiert. Wir haben sie dabei unterstützt. Deshalb erwächst aus dem Versuch, dieses Ziel zu erreichen, auch eine Verantwortung gegenüber den Afghan:innen, die sich mit uns dafür engagiert haben. Sie haben etwas riskiert, nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001. Denn die Taliban waren ja nie völlig von der Bildfläche verschwunden, sondern wollten durch ungezählte Terror- und Selbstmordanschläge, die tausende unschuldiger Opfer forderten, einen demokratischen Staatsaufbau verhindern.
Viele, die nicht unter einer Schreckensherrschaft der Taliban oder in einem in Bürgerkrieg zurückfallenden Land leben wollen, werden in den nächsten Monaten und Jahren irgendwie versuchen, aus Afghanistan zu fliehen. Deutschland sollte sich mit anderen aufnahmebereiten Staaten wie Kanada, Großbritannien und den USA zusammentun, um ein groß angelegtes, internationales Resettlementprogramm auf die Beine zu stellen, koordiniert vom Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Darauf sollte Deutschland sich jetzt zunächst konzentrieren.
Die Gründe für das Scheitern müssen durch eine unabhängige Expert:innen-Kommission aufgearbeitet werden, damit wir für die Zukunft daraus lernen können.
Aber eines können wir heute schon mit Navid Kermani festhalten, der sich in der FAZ sehr kritisch mit dem Afghanistan-Einsatz auseinandergesetzt hat:
„In einer globalisierten Welt ist es keine Realpolitik, sondern Idiotie zu meinen, man könne sich als westliche Staatengemeinschaft oder EU aus Krisenregionen heraushalten.“
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP