02. Juli 2023
Kolumne von Ruprecht Polenz
Zu viele in Deutschland haben vergessen, wie Faschisten an die Macht kamen.
Auch wenn er nur 15.000 Stimmen erhielt, sollte es uns alarmieren, dass am vergangenen Wochenende zum ersten Mal in Deutschland ein AfD-Kandidat zum Landrat gewählt wurde. Die Wahlbeteiligung im thüringischen Sonneberg betrug 56 Prozent. Den übrigen 44 Prozent der Wahlberechtigten war es egal.
Lähmung und Verfall eines demokratischen Gemeinwesens ist nicht zuletzt die Folge verwirrter Maßstäbe, geschwächter Abwehrbereitschaft und falscher Illusion über Toleranz gegen die Feinde der Demokratie. – Diese Beobachtungen von Karl-Dietrich Bracher zum Scheitern der Weimarer Republik gelten auch heute.
Man sollte sich nicht damit beruhigen, dass ein kleines Landratsamt in Händen der AfD oder 20 Prozent in den Meinungsumfragen zwar ärgerlich, aber für unsere Demokratie doch nicht wirklich bedrohlich seien.
Das stimmt für den Augenblick. Vor einem kleinen Feuer muss man keine Angst haben. Man kann es unter Kontrolle halten. Aber wenn es eine demokratische Dürre gibt, dann herrscht Waldbrand-Gefahr. Kommt noch der richtige Wind dazu, stehen schnell riesige Flächen in Flammen. Diese demokratische Dürre hat Bracher beschrieben.
Verwirrte Maßstäbe führen nicht nur zu Wahlentscheidungen für diese faschistische Partei. Verwirrte Maßstäbe prägen auch den Umgang mit den völkischen Nationalisten – selbst in vielen Medien. Dass die AfD vom Verfassungsschutz in großen Teilen als rechtsextrem, d.h. als Gefahr für unsere Demokratie, eingestuft wird, dringt nicht mehr durch, wenn die Maßstäbe erstmal durcheinander geraten sind.
Es zeugt von geschwächter Abwehrbereitschaft, wenn laut einer Allensbach-Umfrage in Ostdeutschland fast die Hälfte (45 Prozent) die Meinung vertritt, in einer „Scheindemokratie“ zu leben, „in der die Bürger nichts zu sagen haben“. Denn warum sollte man sich für eine Demokratie einsetzen, die ja keine mehr ist?
Auch in Westdeutschland sind 28 Prozent dieser Auffassung.
Aus libertärem Freiheitsverständnis werden von der AfD bis weit in die Mitte hinein alle Regelungen, zB zum Klimaschutz, als Bevormundung bezeichnet, weil sie in der Tat in gewohnte Lebensweisen eingreifen.
Empfehlungen für reduzierten Fleischverzehr werden als Verbot behauptet – leider auch von Unionspolitiker:innen. Man sieht überall Reglementierung und Verbote.
Wer Gegenkritik mit Einschränkung der eigenen Meinungsfreiheit verwechselt, in Ernährungstipps Bevormundung wittert und über angebliche Fleischverbote jammert, ist ein Demokratie-Hypochonder. In schweren Fällen bildet er sich ein, in einer Diktatur zu leben.
Umgekehrt verspricht die AfD umfassende Kontrolle und Regulierung bei Migration, gegen sexuelle Selbstbestimmung, gegen freie Presse (ÖRR). Die notwendigen Verhaltensregeln zum Klimaschutz werden als Kulturkampf geframt („wie Ich heize, geht niemand was an“), eigenes Auflehnen dagegen kommt als Notwehr daher.
Vor dem Hintergrund disruptiver Veränderungen durch Erderhitzung, Digitalisierung, KI und einer Erosion der Liberal World Order ist das eine ziemlich toxische Mischung.
Das gegenseitige Zuschieben der Schuld am AfD-Erfolg lässt die demokratischen Parteien wie einen aufgescheuchten Hühnerhaufen erscheinen. Ein Bild, das weitere Erfolge der AfD vorprogrammiert.
Wenn gefragt wird, welcher Partei am ehesten zugetraut wird, die derzeit wichtigsten politischen Probleme zu lösen, sagen mehr als die Hälfte: Keiner Partei.
Eine repräsentative Demokratie ist aber ohne politische Parteien nicht zu haben. Deshalb signalisieren diese Umfragen eben nicht nur, dass demokratische Parteien die tatsächlichen Probleme wie Klimaschutz, Migration, Inflation oder soziale Ungerechtigkeiten effektiver bearbeiten müssen. Sondern sie zeigen auch eine geschwächte Abwehrbereitschaft in der Bevölkerung.
Argumenten für falsche Toleranz gegenüber den Feinden der Demokratie begegnet man überall. Solange die AfD nicht verboten ist, sei es legitim, sie zu wählen, heißt es. Es ist legal, aber nicht legitim. „Nicht verboten“ bedeutet eben nicht „deshalb demokratisch“. Denn es gibt keinen Zwang, einen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht zu stellen. Ein Parteiverbot tilgt nicht das undemokratische Gedankengut in der Gesellschaft. Es kann deshalb besser sein, eine verfassungswidrige Partei politisch zu bekämpfen, statt sie zu verbieten.
Deshalb ist es auch zu kurz gesprungen, wenn Medien meinen, man müsse der AfD denselben Raum geben und sie gleich behandeln wie demokratische Parteien. Die AfD steht außerhalb der demokratischen Klammer, innerhalb derer die anderen Parteien politisch miteinander konkurrieren. Das Bild „alle gegen einen“, das die AfD gern bemüht, um sich Underdog-Sympathien zu erschleichen, ist gefälscht. Es ist notwendig, dass alle Demokrat:innen zusammenhalten, wenn die Demokratie bedroht ist.
Natürlich muss man über die AfD berichten, aber einordnend. „Wenn Rechtsextreme ihre Inhalte verbreiten, ist das keine ‚Kritik‘. So etwas verharmlost die Menschenverachtung, die in diesen Positionen steckt“, schreibt Pia Lamberty in einem lesenswerten Thread auf Twitter.
Es ist absolut wichtig, über die AfD zu berichten. Trotzdem gibt es aus meiner Sicht einige Dinge, die man beachten sollte. 🧵
— Pia Lamberty (@pia_lamberty) June 27, 2023
Kontinuierliche Berichterstattung sei besonders wichtig. „Die Aufmerksamkeit ist immer dann hoch, wenn etwas passiert. Rechtsextremismus ist aber eine konstante Bedrohung, über die auch berichtet werden muss, wenn nicht gerade alle hinschauen.“
In Deutschland tun wir uns schwer damit, die AfD als faschistische Partei zu bezeichnen. Denn beim Begriff Faschismus denken wir an die Nazi-Zeit und an Auschwitz. Und natürlich jammert die AfD über die „Nazi-Keule“, wenn sie als faschistisch bezeichnet wird.
Aber Faschismus gab es in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch in Italien, Ungarn, Schweden, Norwegen, Großbritannien und den USA. Und es gibt ihn heute in Polen, Ungarn und vielen anderen Ländern. Steve Bannon, der frühere strategische Berater von Donald Trump, ist ein lupenreiner Faschist. Und er berät auch europäische Parteien wie die AfD.
Faschismus ist nicht erst Holocaust. Faschismus ist vor allem eine Methode der Machtergreifung, die auf einem bestimmten Weltbild basiert.
Kennzeichnend sind:
– Die Ablehnung von Meinungsvielfalt, Pressefreiheit und Pluralismus („Lügenpresse“)
– Ein ausgeprägtes Freund-Feind-Denken, das sich in Hass und Hetze äußert. Wir gegen die
– Eine biologistisch verstandene Nation, die durch Einwanderung in ihrer Identität bedroht wird („Umvolkung, Überfremdung“, völkischer Nationalismus)
– Ausländerfeindlichkeit, besonders gegenüber Muslimen, Islamophobie („No Moschee“, „Der Islam ist ein Fremdkörper“)
– Antisemitismus („Bevölkerungsaustausch“, „globalistische Eliten“)
– Rassismus
– Die Verharmlosung der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 („Vogelschiss“)
– Die Behauptung, durch „die da oben“ gedemütigt zu werden
– Eine entmenschlichte Sprache („Flüchtlinge entsorgen“)
– Das Verächtlich-machen unserer Demokratie, verbunden mit unverhülltem Machanspruch („Wir holen uns unser Land zurück“)
(Vgl. auch Umberto Eco, Merkmale des Ur-Faschismus).
Damit richtet sich die politische Arbeit der AfD gegen die Fundamente unserer Demokratie. „Unser freiheitlicher, säkularisierter Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, hat Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem zu Recht viel zitierten Diktum festgestellt. Er meint das soziale Kapital, das unsere Gesellschaft immer wieder erschaffen muss, um gut und friedlich zusammenleben zu können.
Die hasserfüllte Polarisierung, die die AfD betreibt, soll dieses soziale Kapital gezielt und systematisch zerstören.
Ihr Protest richtet sich nicht gegen die eine oder andere Regierungsentscheidung, oder gegen andere Parteien. Der Protest der AfD richtet sich gegen die Grundlagen unserer Demokratie.
Das muss wissen, wer meint, sie aus Verärgerung oder Enttäuschung über die Regierung oder das Versagen anderer Parteien wählen zu können, um ihnen einen Denkzettel zu verpassen und sie auf Trab zu bringen. Die Fehler mögen noch so groß sein – Demokrat:innen wählen keine faschistische Partei!
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP