18. November 2020
Kolumne von Hatice Akyün
Wenn ich mal wieder nicht weiß, wer ich bin, dann setze ich mich vor dieses verblichene Foto und betrachte es, wie andere Leute ein Kunstwerk betrachten. Eine Frau mit Kopftuch steht vor einer groben Steinwand. Sie hat ein energisches Gesicht, trägt lange Röcke übereinander. Auf dem einen Arm hält sie ein Kind, ein zweites steht neben ihr. Es wirkt wie ein Bild aus dem vorletzten Jahrhundert. Das Foto zeigt meine Mutter, meine ältere Schwester und mich in unserem anatolischen Dorf.
Vor einigen Tagen saß ich wieder vor diesem Bild und habe es intensiv angeschaut. Auslöser war, dass Özlem Türeci und Uğur Şahin, zwei türkischstämmige WissenschaftlerInnen mit ihrem Unternehmen BioNtech einen Corona-Impfstoff entwickelt haben. Aber was hat ein Impfstoff mit dem Foto aus unserem anatolischen Dorf zu tun? Nun, nach langer Zeit habe ich mich zum ersten Mal wieder richtig türkisch gefühlt. Etwas, das mir seit der Machtübernahme von Erdogan Stück für Stück abhanden gekommen war. Ich habe mich ganz besonders während der Gezi-Proteste 2013 politisch von meinem Ursprungsland entfernt.
Meine Eltern kommen aus der Türkei. Ein Land, mit dem ich mich immer identifizieren konnte, sowohl emotional, als auch politisch. Heute vermisse ich mein deutsches Denken, meine Unabhängigkeit, mein Demokratie- und Toleranzverständnis, eine gewachsene Zivilbevölkerung, Meinungsfreiheit, wenn ich an die Türkei denke. Es sind die Werte, die ich in Deutschland verinnerlicht habe, die selbstverständlich sind. Ich kann jetzt sofort die Regierung kritisieren, eine Demonstration anmelden, eine Petition starten, ohne im Gefängnis zu verschwinden. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Meinungsfreiheit – das macht mein Deutschsein aus.
„Wieso fühlst du Stolz, du hast doch nichts damit zu tun“, bemerkte meine Freundin, und sie hatte ja eigentlich recht. Aber eben nur eigentlich, denn das Gefühl, das Türkischstämmige auf der ganzen Welt empfinden ist, dass viele von ihnen eine ähnliche Biographie haben wie die beiden WissenschaftlerInnen. Uğur Şahin und Özlem Türeci sind beide Kinder von türkischen MigrantInnen, Sahin sogar Sohn eines Gastarbeiters.
Mein Kopf tickt deutsch, meine Seele fühlt türkisch, habe ich oft gesagt, wenn ich gefragt wurde, als was ich mich sehe. Komischerweise fühlte ich mich in den letzten zehn Jahren immer weniger deutsch oder türkisch. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit dem Alter vom Nationendenken weggekommen war. Und dann kommen zwei Menschen, die ich persönlich nicht einmal kenne, aber ihre Namen klingen mir vertraut. Und plötzlich ist da dieses Gefühl von „wir sind wieder wer“, Er ist fast mit dem „man ist wieder wer“ vom „Wunder von Bern“ zu vergleichen. Allerdings ist es bei den Türken so: Jedes Mal, wenn wieder ein Stück dazukommt, die EU-Beitrittsgespräche, der dritte Platz bei der Weltmeisterschaft oder der Literatur-Nobelpreis für den Schriftsteller Orhan Pamuk oder wie jetzt die Entwicklung des Impfstoffes, sagen sie „wir sind endlich wer“, und das ist noch einmal etwas anderes.
Es ist kein patriotischer Nationalstolz, wie es Rechte mit „ich bin stolz, Deutscher zu sein“ definieren. Das impliziert nämlich, dass Deutschsein etwas Besseres ist. Mein Stolz hat eher etwas Kindliches, Wahrhaftiges und Reines. Es ist der Stolz eines Kindes, wenn es etwas Außergewöhnliches geschafft hat und dafür gelobt wird. Stolz bedeutet Wertschätzung. Etwas, das viele türkischstämmige MigrantInnen jahrzehntelang in Deutschland vermisst haben.
Foto: Oliver Mark