28. November 2021
Basir weiß, wie es sich anfühlt, wenn einem die Freiheit innerhalb von einer Sekunde genommen wird. Es fällt ihm nicht leicht, seine Flucht über die pakistanische Grenze in Worte zu fassen. Nur ein Wort lässt er immer wieder fallen: Pech. “Als meine Familie und ich gerade am Checkpoint der pakistanischen Streitkräfte angekommen sind, haben wir uns in die falsche Schlange eingereiht”, erzählt er. “Und sie haben uns wieder zurück nach Afghanistan geschickt.” Er seufzt. “Ich war mir sicher, das Pech verfolgt mich. Wir sind also zurück zum Hotel gefahren und haben es am nächsten Tag nochmal probiert.”
Schon wieder stundenlanges Warten. Schon wieder zwischen tausenden Menschen hoffen, dass es bald ein kleines Stückchen voran geht. Sie alle wollen Afghanistan so schnell wie möglich verlassen. “Manche wurden in der Menschenmasse überrannt”, erzählt Basir. “Ich sah die vielen verletzten Menschen. Meine Kinder weinten. Sie sind gerade mal zwei und vier Jahre alt. Ich nahm sie auf den Arm und ließ unsere Taschen zurück.” In den zwei Koffern war alles drin, was die Familie mit nach Pakistan nehmen wollte. Als Basir mit seiner Frau und seinen Kindern endlich die Grenze passierte, besaßen sie nichts. “Aber das war uns egal. Wir konnten ein neues Leben beginnen. Und das war die Hauptsache”
Noch vor ein paar Monaten war Basir zufrieden mit seinem Leben. Er war für das Radioprogramm des Bawar Media Centers in Masar-i-Scharif verantwortlich – ein Nachrichtensender, der von der Nato und der Bundeswehr eingerichtet wurde. “Wir haben mit unseren Inhalten die Afghanische Nationalarmee unterstützt”, sagt er. “Ich weiß noch, einmal bekamen wir während einer Livesendung einen Anruf.” Basirs Kollegen berichteten gerade über zwei Journalisten, die von den Taliban umgebracht wurden. “Der Anrufer wollte wissen, was uns einfällt, so schlecht über die Taliban zu reden. Sie hätten ja bloß ihren Job gemacht.” In dem Gespräch stellte sich heraus, dass der Mann am anderen Ende der Leitung selbst ein Taliban-Kämpfer war. Die Terroristen verfolgten Basirs Arbeit ganz genau.
Nie wieder wird Basir den Moment vergessen, als er mit seiner Familie den letzten Checkpoint passierte. Als sie erschöpft Quetta, die Millionenstadt im Westen Pakistans, erreichten. Ohne Kleidung, kaum Geld in den Taschen. “Ich fühlte mich wie neugeboren. In dem Moment hat mich das Pech verlassen.” Bald fliegen sie nach Deutschland, beginnen dort ein neues Leben. Dass sie all ihr Besitztum hinter sich gelassen haben, macht ihnen nichts. “Aber es fällt schwer, die Kollegen aus dem Media Center zurückzulassen”, sagt Basir. 15 von ihnen seien noch in Afghanistan, weiterhin auf der Flucht vor den Taliban. So wie mehr als 3800 weitere Ortskräfte der Bundesregierung. Sie alle warten noch auf Rettung. Basir beschloss, sich selbst zu retten.
Fotos: Achim Schmidt
Text: Kathrin Braun