15. Dezember 2020
Kolumne von Hatice Akyün
Wir müssen aufpassen, unser friedliches Zusammenleben steht auf dem Spiel. Es verbünden sich Gruppierungen, die unsere Gesellschaft immer weiter auseinander reißen. Ich bin ratlos, fassungslos und immer öfter schockiert darüber, mit welcher Dreistigkeit, Boshaftigkeit aber vor allem einer Selbstverständlichkeit Demonstranten, die gegen die Corona-Maßnahmen protestieren, Journalist:innen und Polizist:innen bedrohen und angreifen. „Das Potenzial und die Brutalität der Gewalt waren immens. Einzelne Stimmen haben mir gesagt, sowas haben wir in Berlin seit Jahrzehnten nicht erlebt“, sagte Polizeipräsidentin Barbara Slowik nach den Protesten im November in der Hauptstadt.
In einer unübersichtlich werdenden Welt, in politisch unruhigen Zeiten, scheinen Kompromisse, Annäherung und Gespräche mit einem Teil der Gesellschaft kaum noch möglich zu sein. Freundinnen und Freunde erzählen, dass sie ihre eigenen Eltern nicht mehr erreichen, weil sie sich verfangen haben in Verschwörungstheorien und einem Geflecht aus Misstrauen und Respektlosigkeit gegenüber staatlichen Institutionen und Vertreter:innen der Politik.
Wissenschaftler weisen schon lange darauf hin, dass das Gefühl von wirtschaftlicher Benachteiligung ein Auslöser für rassistische Ressentiments ist, nach dem Motto: Die Flüchtlinge kriegen alles und ich nichts. Mit dieser Überzeugung gingen schon Zehntausende bei den Pegida-Märschen auf die Straße. Zum Rassismus kommt jetzt noch das Misstrauen in den Staat, die Wissenschaft und der Demokratie. Es ist fatal, wie Nazis die Verwirrtheit, die Angst und die Dummheit mancher Impfgegner für sich nutzen und sie dazu bringen, an ihrer Seite mitzulaufen. Früher hätte man diese Jesuslatschenträger und Globulibeschwörer nur müde belächelt. Das hat sich durch den Zusammenschluss mit Rechten geändert.
Das Lachen bleibt einem im Hals stecken, wenn man sieht, mit welcher Brutalität diese scheinbar harmlos wirkenden Impfgegner vorgehen. Widerstand gegen die Polizei, Missachtung der Demonstrationsregeln sind Normalität geworden. Dazu kommen Aufruf zum Mord gegen Wissenschaftler:innen und Politiker:innen und Kinder bei den Demos in die erste Reihe stellen, um der Polizei somit den Handlungsspielraum zu nehmen, gegen sie vorzugehen.
Es ist schwer einzuschätzen, wie stark diese gefährliche Bewegung noch wird. Mit Vernunft und Fakten erreicht man diese Leute nicht mehr. Und sie wollen schon längst nicht mehr reden, denn es geht ihnen einzig und allein darum, Aufmerksamkeit um jeden Preis für ihre kruden Thesen zu bekommen. Und die bekommen sie leider, obwohl sie nur eine kleine Minderheit sind.
Jede Krise verschärft die soziale Spaltung einer Gesellschaft. Und jede Krise gefährdet unser Gemeinwohl. Natürlich hat jeder das Recht, für seine Überzeugungen auf die Straße zu gehen und seine Meinung zu verteidigen. Sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank zu vergleichen und somit den millionenfachen Mord an Jüdinnen und Juden zu verharmlosen, ist keine Meinung, wie es auch keine Meinung ist, einen Judenstern mit dem Aufdruck „ungeimpft“ zu tragen.
Was unter Grundrechte fällt, müssen wir aushalten, keine Frage. Aber strafrechtlich Relevantes muss geahndet werden, um diesen Leuten die Kraft des Rechtsstaates aufzuzeigen. Denn wenn sie ständig durchkommen, werden sie weiter Grenzen verschieben. Dass aus Worten mörderische Taten werden können, hat der Mord an Walter Lübcke, die Morde in Hanau und in Halle und die Morde des NSU schmerzlich bewiesen.
Foto: Oliver Mark