05. März 2021
Als am Sonntag, den 14. Mai 2017 um Punkt 18 Uhr die Ergebnisse der Landtagswahl in NRW veröffentlicht wurden, spazierte ich gerade vom Bahnhof in Essen nach Hause. Obwohl der Monat erst zur Hälfte rum war, war mein Datenvolumen schon vollkommen aufgebraucht, so dass es endlos lange dauerte, bis mir mein Handy die erste Hochrechnung pixelfrei zeigte: Die CDU und Laschet hatten die SPD tatsächlich noch auf den letzten Metern überholt und würden jetzt wieder NRW regieren. Das machte mich auf einmal viel trauriger, als es der Situation angemessen gewesen wäre, auch wenn ich auf der anderen Seite nie glühender Fan der NRW-SPD gewesen war. Wahrscheinlich machte es mich so traurig, weil sich dieser Tag einreihte, in diese endlose Kette von Scheißereignissen wie der Trumpwahl, dem Brexit und jetzt eben Laschet, dessen völlig abstrusen Wahlvideos, in denen er wildfremde Menschen in der Bäckerei belauschte und diese dann ohne Verwarnung in Gespräche über die Sicherheit in NRW oder den Kampf gegen die Clans verwickelte, ich noch wenige Tage vorher semi-ironisch auf Whatsapp verschickt hatte. Ich holte mir ein Bier an einem Büdchen und dann fing es richtig stark an zu regnen.
Das ist jetzt knapp vier Jahre her. Inzwischen ist Laschet Chef der CDU und wir stecken in einer weltweiten Pandemie. Die Scheißereignisse entlang der Kette von Scheißereignissen wachsen nicht linear, sondern exponentiell. Und am Mittwoch, nach der letzten Ministerpräsidentenkonferenz (kurz: MPK) war sie wieder da, diese Traurigkeit vom 14. Mai 2017. Diese Traurigkeit ist schwer an nur einem Punkt festzumachen, aber ein paar möchte ich aufzählen. Dass Bundesregierung und Ministerpräsidenten sich auf schrittweise Öffnungen verständigt haben, obwohl sich sehr viele (zugegeben nicht alle) wissenschaftlichen ExpertInnen im Vorfeld dagegen ausgesprochen haben, wird aktuell – unter anderem auf tagesschau.de – so erklärt: “Die Öffnungen der Friseursalons am Montag boten ein erstes Ventil, doch weitere Wirtschaftsbereiche fordern eine Rückkehr zu mehr Normalität – und sei es auch nur eine Aussicht auf Erleichterungen. Viele Menschen sind zunehmend Lockdown-erschöpft.” Auch wenn “Wirtschaftsbereiche” streng sprachlich gesehen natürlich gar nichts “fordern” können, passt das zur Tagesspiegel-Meldung, auf die Mission Lifeline-Kolumnistin Özge diese Woche hinwies: “Vor dem Gipfel (…) gab es diesmal kein Expertengespräch mit Virologen vor einer Bund-Länder-Schalte, sondern mit der Wirtschaft.” Sich vor der wichtigsten nationalen Konferenz zur Beschließung von Pandemiemaßnahmen mit Wirtschaftsexperten statt mit Virologen auszutauschen wirkt ein bisschen so, als würde sich die Fussball-Nationalmannschaft vor dem WM-Finale vom Biathlon-Coaching Team des Wintersport des Deutschen Skiverbands trainieren lassen.
Gleichzeitig wird jetzt immer wieder darauf verwiesen, dass die Menschen Lockdown-müde seien, allein: Wie identifiziert man denn so eine Stimmung zweifelsfrei, insbesondere wenn sie als Argument für einen in den Augen vieler eigentlich kaum mehr zu erklärenden Kurswechsel im Pandemie-Management herhalten muss? Eine Umfrage des ZDF-Politbarometers ermittelte diese Woche, dass nur 21 Prozent “auf jeden Fall” Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen begrüßen, 35 Prozent nur dann, wenn die Fallzahlen nicht steigen und 41 Prozent auf keinen Fall. Ich sage mal so: Ein Öffnungsdruck, dem man sich aus Perspektive der politisch Verantwortlichen nicht mehr entziehen kann, sieht anders aus. Auf Twitter trendete passend dazu am Mittwoch der Hashtag #76ProzentGegenLockerungen. Und selbst wenn man entgegenhält, dass sich auf Twitter überproportional viele Home-Office-Menschen tummeln, die sich nichts sehnlicher wünschen als noch sechs weitere Monate im Komplett-Lockdown zu verbringen: Auch in der stundenlangen Berichterstattung zur MPK auf Bild.de wurden immer wieder Bild-LeserInnen zugeschaltet und zu ihrer Perspektive befragt. Viele äußerten sehr verständlich Verzweiflung über die Schul- und Betreuungssituation, aber ich habe dort niemanden gehört, der sich für die schrittweise Öffnung der Baumärkte eingesetzt hat. Die Frage lautet: Woher will die Politik eigentlich gerade so genau wissen, was “die Menschen” wollen? Aus den Facebook-Kommentaren unter den Posts von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer? Aus dem Fernsehen? Oder – und ich möchte mich direkt vorab für den verschwörerischen Volker-Pispers-Tonfall entschuldigen – sind es am Ende doch diese nebulösen “Wirtschaftsbereiche”, die ihre Risikogruppen (Politiker) entsprechend impfen?
Und damit hört es nicht auf: Der RKI-Chef Lothar Wieler betätigte sich diese Woche auch politisch und raunte verschwörerisch, dass es ein Tabu sei, über den hohen Anteil von Migranten auf den Intensivstationen im Zusammenhang mit Corona zu sprechen. Während das Wort “Tabu” bei Wieler einen gewissen konservativen Zungenschlag bekommt, vor dessen Kulisse man sich die Worte “linksgrüner Mainstream”, “Willkommenskultur” und “Denkverbote” eigentlich nur noch dazu denken muss. Ein Tabu besteht tatsächlich, aber anders als Wieler denkt: Wer über den überproportionalen Anteil migrantischer PatientInnen auf den Intensivstationen spricht, muss nämlich statt eines nebulösen Kulturarguments eigentlich die sozialen und ökonomischen Bedingungen dieser Menschen ins Feld führen. So war Wielers “Tabu” aber jede Wette nicht gemeint.
Die Verzweiflung über die gegenwärtige Corona-Politik bricht inzwischen selbst bei den gemäßigtesten Links-Liberalen offen heraus. Also bei genau denen, die Merkel beispielsweise noch während der sogenannten “Flüchtlingsdebatte” trotz aller ideologischen Differenzen laufend gegen Rechts in Schutz nahmen. Einem Freund schrieb ich Mittwoch Abend: “Ich glaube, so wenig Rückhalt für Merkel habe ich noch nie erlebt.” und schämte mich gleich im nächsten Augenblick dafür, dass sich der Robin-Alexander-Politbeobachter-Sprech bereits in mein Privatleben geschlichen hatte. Er schrieb mir zurück: “Wunderbar, dass die Menschen 2021 endlich auf den Trichter kommen, dass Merkel verantwortet, was ihre Minister treiben.” Ich glaube, er hat Recht.
Foto: Susi Bumms