26. Oktober 2021
Kolumne von Özge
Julian Reichelt wurde vergangene Woche gefeuert. Dem ging ein Artikel der New York Times voraus, der unter anderem enthüllte, dass der damalige BILD-Chefredakteur seine firmeninterne Macht für sexuelle Zwecke missbrauchte. Das konnte der Axel Springer Verlag angesichts der aussichtsreichen US-Expansionspläne so gar nicht gebrauchen.
Das hielt die Ex-Kollegen natürlich nicht von ausschweifenden Danksagungen ab. Eine rührselige TV-Botschaft des hauseigenen Senders machte die Runde, die journalistischen Nachwuchsentdeckungen Reichelts zollten Tribut und auch die WELT-Chefetage war untröstlich. Über die Frauen, die von Reichelt über Jahre hinweg als Sexobjekte behandelt wurden – immerhin alles ebenfalls Kolleginnen – fiel kein Wort. Denn um die kümmert sich nach wie vor keiner im Springer-Imperium.
Was sich hier in seltener Klarheit zeigt, ist die Wirkweise der wohl wichtigsten Ressource, die ein sexuell übergriffiger Chef hat: das soziale Netz, in das er eingebettet ist und auf dessen Rückhalt er vertrauen kann. Damit der Missbrauch eines Machtgefälles „funktioniert“, muss das Opfer allein stehen, während der Täter ein Umfeld loyaler sogenannter Enabler auf seiner Seite wissen muss – Menschen, die sein Verhalten möglich machen, durch Mitwissen, durch Normalisieren, durch Wegsehen. Und Julian Reichelt kann sich auf seine Enabler verlassen. Sogar über seine Kündigung hinaus steht sein ehemaliger Arbeitgeber juristisch hinter ihm. In der selben Pressemitteilung, die seine Entlassung vermeldet, kündigt Springer rechtliche Schritte gegen die „Offenlegung von (…) privater Kommunikation“ an. Der Großteil der privaten Kommunikation, die in der Recherche auftaucht, stammt von den betroffenen Frauen und belegt Reichelts sexuelle Avancen. Springer wird die betroffenen Frauen verklagen.
Täterschutz hat viele Namen, einer davon lautet Loyalität. Der Axel Springer Verlag, vom Personal der einzelnen Publikationen bis in die Geschäftsführung des Unternehmens, lebt diese Täterloyalität nicht nur im Geheimen, sondern unverhohlen vor unser aller Augen.
Foto: Timo Schlüter