29. September 2020
Voula ist eine Frau Mitte 60. Ihr herzliches Lachen lässt jahrelanges Rauchen ahnen. Ihre Leidenschaft für das Malen hat sie in ihrer Taverne an den Wänden verewigt. Sie nimmt sich Zeit, um mit uns zu reden. Ein perfektes Englisch spricht sie nicht, dennoch kann sie ihre Sicht auf die Ereignisse auf Samos sehr verständlich schildern. Sie wirkt friedlich und gastfreundlich. Auch wenn sie uns u. a. von finanziellen Krisen berichtet, strahlt sie eine charismatische Art aus.
Ich kann mir gut vorstellen, dass ihre Heimat hier auf der Insel Samos ist und auch schon immer war. 24 Jahre lang arbeitete sie für Zeitung und Radio als Journalistin. Die Geschichte der Insel hat sie schon immer sehr interessiert, erzählt sie uns. In der griechischen Geschichte findet man immer wieder Themen wie Migration, Flucht und unterschiedliche Kulturen. Seit Jahrhunderten ist Griechenland ein Land, das Menschen im Lauf ihrer Flucht durchreisen und hier eine neue Heimat finden.
Die griechische Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft, von der sie erzählt, haben wir in den letzten Wochen selbst erlebt. Doch sie meint, dass der Zeitraum von fünf Jahren, seitdem die Geflüchteten auf die Inseln gekommen sind, einfach zu lange ist und der Eindruck entsteht, dass die Einwohner von Samos keine Kraft und Geduld mehr haben. Das an einer Bucht gelegene Dorf „Vathy“ hat ca. 2000 Einwohner und das für 648 auslegte Lager, ist mit ca. 5.100 Menschen restlos überfüllt. Voula macht deutlich, dass die Menschen in dem Camp kein gutes Leben führen und sie die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen sieht. Die Menschen bekommen unregelmäßig etwas zum Essen. Nebenbei erwähnt sie, dass sie selber, wenn sie Essen vom Tag übrig hat, es an Geflüchtete weitergibt, die am Abend manchmal vorbeikommen.
Im sogenannten Dschungel, der sich neben dem ursprünglichen Camp befindet, sind die Menschen in den selbst gebauten Unterkünften Regen, Kälte und Hitze ausgesetzt. Es gibt keine Möglichkeit auf Privatsphäre. Die Missstände, in denen die Menschen leben müssen, sieht und kritisiert Voula. Sie meint, dass diese Auffassung auch die Mehrheit der Griechen auf Samos teilen würde. Doch Griechenland steckt immer noch in den Folgen der Wirtschaftskrise von 2010. Die Griechen auf Samos hätten selbst Probleme Jobs zu finden. Wie solle man so den Geflüchteten eine Zukunft geben können?! Auch Voulas Taverne lebt vom Tourismus, aber in den letzten Jahren seien immer weniger Touristen nach Vathy gekommen. Und dann kam auch noch die Coronakrise. Wie alle anderen musste sie ihr Geschäft schließen. Sie ist froh, dass sie ihre Taverne wieder betreiben kann. Doch sie betont immer wieder, dass die ganz Situation für sie sehr schwierig sei. Sie hätte wirklich kein grundsätzliches Problem mit den Geflüchteten, doch von den ca. 63 Covid-19 Infizierten seien 55 Geflüchtete. Das Camp ist gerade in einem Lockdown, dennoch sind manche Geflüchtete in den Straßen des kleinen Dorfes zu sehen. Sie hat Angst, dass sich Corona weiter auf der Insel durch die Geflüchteten ausbreitet. Zudem kritisiert sie sehr deutlich das Vorgehen der griechischen Regierung in der Coronakrise. Es würden nicht genügend Tests gemacht; die schon davor überfüllten Krankenhäuser wurden nicht auf die Situation angepasst und es wurde kein Plan für die Bevölkerung aufgestellt, außer dass die Menschen Masken tragen und in Quarantäne gehen sollen. Corona sei eine unberechenbare Gefahr für die Menschen auf der Insel.
Die Krise sieht sie aus unterschiedlichen Gesichtspunkten und projiziert das Ganze nicht auf die Geflüchteten an sich. Die Menschen in dem Camp sollten auf das Festland gebracht werden, meint sie.
Voula spiegelt die Zerrissenheit der griechischen Gesellschaft wider, die selbst mit der wirtschaftlichen Situation zu kämpfen hat und von der EU mit der Thematik der Geflüchteten scheinbar allein gelassen wird. Die Griechen haben lange Ausdauer gezeigt. Doch sie fordern, wie die Geflüchteten selbst, dass die Camps evakuiert werden. Die europäische Lösung kann nicht in Form vom menschenunwürdigen, hoffnungslos überfüllten Lagern auf den Inseln nahe der türkischen Grenze sein. Die Folgen der traumatischen Bedingungen für die Geflüchteten muss man nicht erklären. Doch für die Griechen ist es auch keine Lösung. Man lässt die Menschen mit den Problemen allein. Man muss sich vor Augen führen, dass die Geflüchteten nicht nur zwei Wochen in dem Camp leben, sondern seit Monaten oder sogar Jahren ihren Alltag dort meistern müssen. Wie lange soll diese Tragödie noch andauern?! Das immer so westlich, reich und diplomatisch dargestellte Europa zeigt sich mir hier vor Ort, ohnmächtig und unverantwortlich.
Edit: Im ursprünglichen Text stand, dass das Camp für 400 Menschen ausgelegt sei und dort aktuell ca. 4000 Menschen lebten. Beide zahlen sind höher Dies haben wir auf Hinweis einer Leserin korrigiert.
Text: Nora Klemm
Foto: Leander Ott