03. Mai 2021
Von Rosa Ackva und Jonas Meurer
Eigentlich galt die Atlantik-Route als geschlossen, doch seit im November des letzten Jahres innerhalb von zwei Wochen mehr als 5.500 Menschen über sie die Kanarischen Inseln erreichten, ist das Thema auch in der deutschsprachigen Presse präsent. Wieso machen sich erneut so viele Menschen auf den gefährlichen Weg über den rauen Atlantik? Welche Perspektiven eröffnen sich Ihnen? Und werden die Kanaren zum nächsten Exempel gescheiterter Europäischer Migrationspolitik? Dieser Beitrag will versuchen, einen Überblick zu verschaffen und einige Antworten zu geben.
Menschen machen sich aus den verschiedensten Gründen über den afrikanischen Kontinent auf den Weg nach Europa. Welche Route sie dabei wählen, ist von vielen politischen, geografischen und persönlichen Faktoren abhängig – und die mörderische Abschottungspolitik der EU spielt hierbei eine zentrale Rolle. Nachdem die Routen über den Balkan, die Ägäis und das zentrale Mittelmeer immer gefährlicher wurden, wählten im Jahr 2020 etwa 23.000 Menschen den Weg über die nordafrikanische Atlantikküste. Dies ist die höchste Zahl seit der sogenannten „Cayuco-Krise“ im Jahr 2006.
In den meisten Fällen starten die kleinen Holzboote von Marokko, der Westsahara, Mauretanien oder gar dem Senegal aus. Die Überfahrt ist extrem gefährlich, denn die Boote sind den hohen Atlantikwellen und der starken Strömung nicht gewachsen. Eine Überfahrt auf kürzestem Wege – etwa 150 Kilometer – dauert im besten Fall zwei Tage, aus dem Senegal oft mehr als 10 Tage. Das Gebiet der Atlantikroute erstreckt sich somit auf bis zu 1.500 Kilometer und birgt durch seine unvorstellbare Größe diverse Gefahren: Einerseits kann durch Supporter:innen kaum nachvollzogen werden, wie viele Boote sich auf den Weg in Richtung Kanaren begeben.
Andererseits verpassen die Schutzsuchenden die Kanaren mit ihren kleinen Holzbooten häufig und enden auf dem offenen Atlantik und so im sicheren Tod. Wie viele Menschen auf der Überfahrt ihr Leben verlieren, kann demnach nur vermutet werden. Laut Alarm Phone verloren letztes Jahr schätzungsweise 1.000 bis 1.700 Menschen auf dieser Route ihr Leben. (1) Damit endete die Hoffnung auf ein besseres Leben für jede zwölfte Person tödlich – ein schier unvorstellbarer Wahnsinn.
Die zur Überfahrt verwendeten Holzboote – so genannte „Cayucos“ oder „Pateras“ – werden eigentlich von selbstständigen Fischer:innen an der westafrikanischen Küste genutzt. Viele von ihnen verloren aufgrund der imperialen EU-Politik und entsprechender Fischereiverträge ihre Arbeit und waren zum Verkauf der Fischerboote gezwungen – ein perfides Sinnbild post-kolonialer Machtverhältnisse.
Ein Großteil der Boote, die es bis zu den kanarischen Inseln schaffen, werden von der halbstaatlichen Seenotrettungsorganisation Salvamento Marítimo gerettet; nur wenige erreichen die Inseln auf eigene Faust. (2) In diesem Punkt unterscheidet sich die Atlantikroute fundamental von der zentralen Mittelmeer-Route und der Ägäis – wo italienische, maltesische und griechische Küstenwache eingehende Notrufe ignorieren und aktiv an illegalen Push-Backs beteiligt sind. Und dennoch: auch hier verlaufen die Grenzen der Humanität entlang der staatlichen Grenzen. In mindestens einem durch Alarm Phone dokumentierten Notfall vor der Westsahara verweigerte Salvamento Marítimo ihre Zuständigkeit – 19 Menschen ertranken. Die Katastrophe ereignete sich in der spanischen SAR-Zone, keine der angerufenen Rettungsleitstellen übernahm die Rettung. Das zeigt die tödlichen Folgen staatlichen Geschachers um Zuständigkeiten – oder in den Worten von Alarm Phone: „These deaths could so easily have been avoided!“ (3)
Als im Herbst 2020 tausende Menschen die Altantikroute nach Europa wählten, rückte die touristische Kleinstadt Arguineguin im Süden Gran Canarias ins Zentrum des Geschehens. Denn in den dortigen Hafen brachte Salvamento Maritímo den Großteil der auf See geretteten Menschen. Auf dem Pier wurden die angekommenen Menschen zunächst in wenigen provisorisch errichteten Zelten registriert, medizinisch untersucht und auf Covid-19 getestet. Innerhalb weniger Monate entstand dort jedoch ein maßlos überfülltes Ankunftslager mit bis zu 2.700 Menschen. Viele mussten unter freiem Himmel auf dem Boden schlafen. Es fehlte an fließendem Wasser und Nahrungsmitteln sowie gesetzlich verpflichtetem Rechtsbeistand und Übersetzer:innen bei der Asylantragsstellung. Monate später stellte sich heraus, dass etliche der schutzsuchenden Menschen noch nicht einmal über ihr Recht, einen Asylantrag zu stellen, aufgeklärt wurden und überforderte Pflichtanwält:innen ohne Absprachen mit ihren Klient:innen Rückführungsentscheide unterschrieben. Viele wurden außerdem über mehrere Tage bis Wochen hinweg in dem Lager festgehalten, obwohl das nach spanischem Recht nur für 72 Stunden zulässig ist. Aktivst:innen, Journalist:innen und Menschenrechtsorganisationen, die sich mit den dort ausharrenden Menschen solidarisierten, forderten unmittelbar die Schließung des Lagers der Schande (spanisch: muelle de la vergüenza) und setzten sich für eine menschenwürdige Unterbringung ein. (4)
Inzwischen wurde das Lager geräumt und die Betroffenen zunächst – in wegen der Corona-Pandemie ohnehin leerstehenden – Hotels und Ferienwohnungen untergebracht. Doch anstatt die vor Krieg, Verfolgung und Armut Geflohenen nachhaltig zu unterstützen und ihnen zu helfen, ein neues Leben aufzubauen, wurden sie zuletzt wieder in neu errichtete Massenunterkünfte gezwungen. Der Aufbau jener Unterkünfte – an der Zahl sechs mit insgesamt bis zu 7.000 Plätzen – geht zurück auf den „Aufnahmeplan für Migration“ der spanischen Zentralregierung und der kanarischen Regierung von November letzten Jahres. Eindeutig zeigt sich die dahinterstehende Strategie: Möglichst isoliert und abgeschirmt von der lokalen Bevölkerung werden hunderte bis tausende Menschen auf engstem Raum in ehemaligen Militärbaracken untergebracht und sollen – sobald wie möglich – in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.
„Wir kamen auf der Suche nach dem schönen Leben – und fanden ein beschissenes Leben.“ – Ein Geflüchteter auf Gran Canaria
“Vinimos buscando una vida bonita y nos encontramos una vida de mierda”, me comenta uno de los chicos migrantes que ha pasado 3 noches al raso en el barrio de La Isleta de Las Palmas de Gran Canariahttps://t.co/s080ApTRuo
— Andrea Domínguez (@AndreaDguezT) March 1, 2021
In dem größten der Lager, Las Raíces auf Teneriffa, leben derzeit etwa 1.500 Menschen unter unmenschlichen Bedingungen. Das Lager, errichtet auf einer alten Militärkaserne, liegt in den Bergen bei La Laguna – an einem der kältesten und nassesten Orte Teneriffas. Die Betroffenen berichten von stundenlangem Schlangestehen bei der Essensausgabe und Videos zeugen von überschwemmten Schlafräumen nach starkem Regen. Schon am Tag der Eröffnung weigerten sich einige der Übergesiedelten wegen der schlechten Bedingungen aus den Shuttlebussen auszusteigen.
Mittlerweile hat sich vor dem Lager ein Protestcamp entwickelt. Die Menschen weigern sich, in das Lager zu ziehen und fordern stattdessen menschenwürdige Unterbringung und vor allem eine Perspektive für ihre Weiterreise. Niemand hier will dauerhaft bleiben, dieser Ort – so berichten viele der dort Protestierenden – fühle sich an wie ein Gefängnis. Um ihren Widerstand sichtbar zu machen, traten einige in den Hungerstreik. In ihrem politischen Protest erfahren sie große Solidarität von Nachbar:innen, Journalist:innen und Aktivist:innen. Diese reicht von medizinischer Versorgung über Essensspenden bis hin zu Sprachunterricht und gemeinsamen politischen Aktionen. Nahezu jeden Samstag protestieren Betroffene und Unterstützer:innen vor dem Lager oder in der Stadt gegen ihre Festsetzung auf den Kanaren, für ihr Recht auf Migration und ein selbstbestimmtes Leben innerhalb Europas.
Die Zustände erinnern unweigerlich an die Verhältnisse in Moria, auf Lipa und anderen Lagern an den EU-Außengrenzen: Zwar hat das Ausmaß des Leidens noch nicht jenes von Moria erreicht, doch auch auf den Kanaren werden die Menschen in lebensunwürdigen Lagern zusammengepfercht, unzureichend versorgt und in ihrer Perspektivlosigkeit alleine gelassen. Bilder, die genutzt werden, um neue Migrationsbewegungen abzuschrecken. Dennoch: die Betroffen setzen sich zur Wehr, organisieren sich und kämpfen für ihr Recht auf Bewegungsfreiheit.
Der Großteil der Schutzsuchenden sieht die Kanaren nur als Zwischenstopp, viele möchten nach Kontinentaleuropa weiterreisen. Dennoch schaffen es die wenigsten auf das spanische Festland, womit die Kanaren für sie zur Endstation werden.
„Sobald die Polizei am Flughafen jemanden sieht, der in ihr rassistisches Profil passt, wird er kontrolliert und nicht selten direkt in ein Abschiebegefängnis gesteckt.“ – Mba, lokaler Aktivist auf Teneriffa
Laut spanischen Gesetz dürfen all jene, die in Spanien einen Asylantrag gestellt haben, sich frei im gesamten Land bewegen – d.h. auch etwa von den Kanaren per Flugzeug auf das europäische Festland reisen. Die Realität jedoch sieht anders aus: Aufgrund fehlender Rechtsberatung (siehe oben) haben 2020 weniger als zwei Prozent der mit dem Boot Angekommenen einen Asylantrag gestellt. Die überwältigende Mehrzahl stellte mangels besseren Wissens entweder keinen Asylantrag oder stimmte gar ihrer Rückführung zu, was nun als Grundlage für systematische Repression genutzt wird. Denn anstatt die Menschen auf das Festland weiterreisen zu lassen, werden sie in rassistischen Kontrollen – etwa an Flughäfen – festgenommen und auf Grundlage rechtswidriger Rückführungsbescheide direkt in eines der Abschiebegefängnisse gesperrt. Immerhin konnte im März nun vor Gericht erstritten werden, dass sich die Behörden nicht auf jene alten Rückführungsbescheide berufen dürfen. (5) Mit diesem Urteil erklärte das Gericht die Praxis der Kontrollen an den Flughäfen de facto als rechtswidrig. Ein kleiner aber bedeutender Etappensieg im Kampf gegen den rassistischen Wahnsinn.
„In einigen Fällen gab es einen Übersetzer für 100 Menschen, also überhaupt keine individuelle rechtliche Beratung.“ – Mba, lokaler Aktivist auf Teneriffa
Wie die deutsche, setzte auch die spanische Regierung zu Beginn der Corona-Pandemie alle Abschiebungen aus. Doch während das weltweite Infektionsgeschehen ein Jahr später kein Ende nimmt, werden schutzsuchende Menschen mittlerweile wieder rigoros abgeschoben. Dafür hat die spanische Regierung etwa ein neues Rückführungsabkommen mit Marokko abgeschlossen, in Folge dessen inzwischen wöchentlich vier Abschiebeflüge nach Marokko starten. Eine Gruppe von Marokkaner:innen berichtete von Festnahmen auf offener Straße; nach drei Tagen Haft waren sie wieder dort, wo ihre Reise vor Monaten begann. Dennoch kapitulieren sie nicht vor Europas Grenzen: “Ich möchte es noch einmal legal versuchen. Wenn ich in meinem Land bleiben muss, bringe ich mich um.” (6) Solange Menschen keine Perspektive in ihrem Land sehen, werden sie ihren Weg in ein besseres Leben suchen.
Nach drei Jahren Abschiebestopp soll nun auch wieder in den Senegal abgeschoben werden – und das in einer Zeit, in der die größten Straßenproteste seit Jahren von Armee und Polizei gewaltsam niedergeschlagen werden. Bereits zwei Mal konnte dieser Abschiebeflug verhindert werden.
Auf den Kanaren zeigt sich erneut, dass die Menschen sich durch milliardenschwere Abschottungspolitik und staatliche Repression nicht von ihrer Suche nach einem besseren Leben abhalten lassen. Sie werden sich weiter auf den Weg machen, solange ihre Lebensumstände sie dazu zwingen. Die autoritäre Vorstellung, Migration regulieren zu können, verstärkt vor allem das Leid der Betroffenen und ist langfristig zum Scheitern verurteilt.
„Die Ankommenden fordern Würde. Doch hier werden sie nicht als Menschen, sondern wie Dreck behandelt.“ – Mba, lokaler Aktivist auf Teneriffa
Doch anstatt ein bedingungsloses Recht auf Migration anzuerkennen, setzt die EU ein weiteres Mal auf Abschreckung, handelt mit den Regierungen der Herkunfts- und Transitländer menschenverachtende Verträge aus um die Menschen schon auf dem afrikanischen Kontinent aufzuhalten und steckt diejenigen, die es dennoch versuchen, in Lager, die an Gefängnisse erinnern. All das kommt nicht von ungefähr. Die gesamte Migrations- und Grenzpolitik der EU ist geprägt von der rassistischen Logik, globale Umverteilungsprozesse zum Schutz der eigenen Privilegien zu verhindern. Dieses Konzept nationalstaatlicher Ausgrenzung gilt es aus linker Perspektive grundsätzlich abzulehnen und zu bekämpfen. Denn nur die Perspektive auf globale Solidarität in einer Welt ohne Grenzen kann die Ursachen für Flucht in den Blick nehmen. Gleichzeitig sollte Migration selbstverständlich und für jede:n möglich sein.
Die EU und Spanien dagegen gießen auf den Kanaren ein weiteres Mal Öl ins Feuer einer rassistisch strukturierten Welt, anstatt sich der offensichtlichen globalen sozialen Ungerechtigkeit und dem historische Erbe von Kolonialismus und Imperialismus endlich zu stellen.
Dem entgegen steht die unmittelbare Solidarität, welche die Menschen auf ihrem Weg erfahren. Sie stellt dieser Unmenschlichkeit die Hoffnung auf eine andere Welt entgegen. In diesem Sinne ist es wunderschön zu sehen, wie sich ein weiteres Mal spontane Unterstützungsstrukturen rund um die Lager entwickeln und die Menschen sich gegenseitig helfen.
„Jene, die unter der Gewalt Europas leiden, sind meine Brüder und Schwestern. Daher ist es für mich völlig natürlich, ihnen zu helfen, sie zu beschützen und an ihrer Seite zu kämpfen.“ – Mba, lokaler Aktivist auf Teneriffa
Zu den Autor:innen: Rosa Ackva und Jonas Meurer waren im Winter drei Monate auf den Kanaren, haben die politische Situation rund um die vermehrten Bootsankünfte beobachtet und waren beeindruckt von der Solidaritätsarbeit der politischen Strukturen vor Ort.
Fotos: Candela Fernández