07. Januar 2021
Vorgestern haben Bund und Länder – ich bin beeindruckt von mir selber, dass ich die Formulierung “Bund und Länder” in den letzten Monaten so nachhaltig in meinen aktiven Wortschatz integriert habe und fühle mich dabei schon ohne jede Reue wie ein abgeklärter Politik-Redakteur eines halb vergessenen öffentlich-rechtlichen Landesstudios, also so einer, der in seiner Laufbahn schon alles gesehen hat, eben genau die, die man immer schon in den Pressekonferenz-Livestreams auf unbequemen Stühlen herumlümmeln und auf ihrem iPhone rumdaddeln sieht, wenn man den Youtube-Link früh genug anklickt und die Politiker_innen noch gar nicht da sind – ja bekanntlich eine Verlängerung des Shutdowns sowie eine “Verschärfung” der Kontaktbeschränkungen beschlossen. Diese Meldung allein wäre natürlich ein ziemlich langweiliger Gegenstand für eine Kolumne, was ließe sich dazu schon groß meinen oder aufregen von mir als in epidemiologischen Fragen bestenfalls interessierter Laie, dessen Expertise sich darin erschöpft, viel Markus Lanz zu gucken und dabei parallel Twitter-Threads von englischsprachigen Virolog_innen lediglich zur Hälfte zu verstehen.
Jedenfalls gibt es jetzt Aufregung im Internet weil zu den neuen Bestimmungen jetzt auch ein Bewegungsradius für Bürgerinnen und Bürger in Hotspots mit Inzidenzen über 200 gehört und dieser auf 15 Kilometer um den Wohnort beschränkt ist. Und direkt eine Entwarnung: Der Weg zur Arbeit bleibt davon natürlich einmal mehr unberührt. Dazu analysierte der Mission Lifeline-Kolumnist Robert Fietzke gestern on point: “Der #Bewegungsradius von 15 Kilometern gilt selbstverständlich nicht für den Weg zu Arbeit, denn bei der Arbeit oder auf dem Weg dorthin kann man sich nicht anstecken, das haben die Bund-Länder-Krisenmanager*innen in einer harten Verhandlungsrunde mit dem Virus ausgemacht.” Relativ zeitnah prägte die BILD-Zeitung den Kampfbegriff “Coronaleine” für den neugeschaffenen Bewegungsradius, später tauchte derselbe Begriff auch in der “Tagesschau” auf, parallel dazu tobten sich viele AfD- und FDP-Accounts auf Twitter unter den entsprechenden Hashtags aus. Aus kommunikativer Sicht ist die Ankündigung der neuen Maßnahme auf jeden Fall schon gut daneben gegangen.
Dabei ist der “Bewegungsradius”, der jetzt beschlossen wurde, schon ein Kompromiss-Modell. Ursprünglich hatte der Bund die Regelung nämlich für alle Kreise mit einer Inzidenz über 100 vorgeschlagen. Davon wäre zum Beispiel sofort mehr als die Hälfte aller Kreise hier in Nordrhein-Westfalen betroffen gewesen. Der Kompromissvorschlag der Länder war dann die 200er-Inzidenz als Bedingung für den Radius. Das betrifft dann wiederum keinen Kreis in NRW – einmal mehr ein stark verhandelter Kompromiss von unserem Mann in NRW, Armin Laschet. Und selbst wenn der Radius einmal aktiviert wird, stellt sich dann die Frage, wer das eigentlich mit welcher “manpower” kontrollieren soll. Polizeigewerkschaften verkündeten jedenfalls schon, dass eine Einhaltung des Radius maximal “stichprobenartig” möglich sein wird. Offenbar handelt es sich bei dem Bewegungsradius-Plan wohl auch um eine Maßnahme, mit der neben der möglichen Effekte der britischen Mutation des Virus auch der Wahnsinn überfüllter Ski- und Rodelpisten der letzten Tage gerade in den Regionen mit hohen Infektionszahlen eingefangen. Und vielleicht hätte man das auch einfacher ohne so ein sperriges Wording wie “Bewegungsradius” haben können, das im Endeffekt nur den Hashtag für den nächsten Shitstorm liefert, können, aber ich bin auch nur wie bereits oben zugegeben ein interessierter Laie.
Stattdessen befeuert der von BILD und auch der Tagesschau in “Coronaleine” umgeframte Bewegungsradius nun die Schwurbler, Verschwörer und Rechten, die das Grundgesetz noch einmal mehr abgeschafft und die Bürger_innen von der “Merkeldiktatur” versklavt sehen (wollen). Und das funktioniert sogar, obwohl doch inzwischen bei wirklich dem Letzten angekommen sein müsste, wie sehr sich die Ministerpräsident_innen bei jeder Bund und Länder-Konferenz aufs Neue mit Händen und Füßen gegen die Vorschläge aus dem Kanzleramt wehren. Was soll das für eine halbgare und peinlich zerstrittene Mega-Verschwörung sein, von der dort dauernd gefaselt wird?
Diese Quatschdebatten springen dann naturgemäß über auf die halbwegs geradeaus Denkenden, es erscheinen Texte zum Thema, so wie auch dieser hier. Und klauen Aufmerksamkeit für viel dringlichere Themen, wie zum Beispiel, dass Kinder und Schüler_innen durch Ausfälle und fehlender Infrastruktur für digitale Bildung immer noch viel mehr in die “Pflicht zur Senkung der Inzidenzzahlen” genommen werden als Erwachsene, die wie selbstverständlich jeden Morgen mit Bus und Bahn zur Arbeit ins Großraumbüro fahren. Darauf wies der sehr interessante ZEIT-Artikel von Jutta Allmendinger und Nicola Brandt diese Woche hin.
Oder die Aufmerksamkeit für die vielen Menschen, die seit Monaten in dem gefängnisartigen Lager Moria 2 “ohne Duschen, ohne Heizungen und ohne Aufmerksamkeit” (Erik Marquardt) im Schlamm versinken. Und das, obwohl Europa nach dem Brand von Moria 1 schnelle Hilfe versprochen hat und keine “Elendslager” mehr zulassen wollte. Wer erinnert sich an die letzte Talkshow zu diesem Thema? Das letzte SPIEGEL-Cover? Dieses unglaubliche Versagen liegt eigentlich so klar und deutlich vor uns, dass man schon fast wieder Angst bekommt, es sich verdächtig einfach zu machen, wenn man dieses Versagen benennt. Aber in Zeiten der Pandemie, in der Quatsch-Debatten wie die um den “Bewegungsradius” mehrmals die Woche Konjunktur haben, muss man immer wieder darauf hinweisen. Denn dabei drohen wir immer wieder die zu vergessen, für die 15 Kilometer Bewegungsradius um das eigene “Haus” einen unvorstellbaren Luxus darstellen würde.
Foto: Susi Bumms