23. November 2021
Kolumne von Özge
Schläge, Tritte, Beschimpfungen – als „Erziehungsmaßnahme“ soll die damalige Leiterin einer inzwischen geschlossenen Obdachlosenunterkunft in Berlin-Friedrichshain diese Misshandlungen bezeichnet haben, die Security-Mitarbeiter zwischen Februar und Juni diesen Jahres gegen Bewohner verübten. Zudem sollen sich die Mitarbeiter an den sowieso schon denkbar knappen Habseligkeiten der Obdachlosen bereichert haben. Und immer wieder sollen rassistische Beleidigungen gefallen sein. Die Senatssozialverwaltung hat Strafanzeige gestellt, die Ermittlungen dauern an.
Kaum eine Gruppe wird in offiziellen Statistiken derart unsichtbar gemacht wie Wohnungs- und Obdachlose. Über ihre Anzahl, ihre Verteilung, ihre Schicksale und tagtäglichen Herausforderungen gibt es so gut wie keine empirischen Erkenntnisse. Wo solche aber unverzichtbar sind, etwa in der Planung und Budgetierung von Notunterkünften, werden Schätzungen herangezogen. Aber nicht erst hier wird die Unsichtbarkeit obdachloser Menschen zum Problem: unser Bewusstsein über rechte Gewalt hat in diesem Bereich eine klaffende Lücke.
Während das Bundeskriminalamt im Jahr 2011 noch 600 Straftaten gegen Menschen ohne festen Wohnsitz erfasste, stieg diese Zahl 2017 auf 1400 an. Das Dunkelfeld dürfte angesichts der enormen Hemmungen, die Betroffene aufgrund alltäglicher staatlicher Drangsalierung vor der Polizei haben, extrem groß sein. In der Zählung der Todesopfer von Gewalttaten gegen Obdachlose gibt es große Schwankungen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. zählt zwischen 2011 und 2017 fast 150 Fälle und damit mehr als doppelt so viele wie das BKA im selben Zeitraum. Während die Amadeu Antonio Stiftung in ihrer Chronologie der Todesopfer rechter Gewalt 26 Obdachlose auflistet, will das BKA in diesem Zeitraum nur acht gezählt haben.
Auf staatlicher Seite scheint sich niemand an diesen Unklarheiten zu stören. Auch Maßnahmen gegen die massiv steigende Tendenz sucht man vergebens, nirgendwo wird nach Ursachen geforscht, und hätte die Linkspartei im Bundestag keine entsprechende Anfrage gestellt, wäre der Anstieg wohl auch von den Medien unbemerkt geblieben.
Zurück nach Berlin-Friedrichshain. „Erziehungsmaßnahme“ – dieser Begriff lässt, sollte er wirklich im Zusammenhang mit gewalttätigen Übergriffen in der Wohnungslosenunterkunft gefallen sein, tief in den braunen Sumpf blicken. Der deutsche Faschismus zeichnet sich besonders durch den Hass auf Menschen aus, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen, alkohol- oder anderweitig suchtkrank sind, auf der Straße leben oder auch einfach nur hohe Schulden haben. Das einzige Lager, das die Nazis 1936 eigens für die Internierung dieser Gruppe bauten, wurde als „Erziehungssiedlung“ bezeichnet.
Während sozialdarwinistische Ideen uns in jüngster Zeit vor allem im Kontext der Pandemiebekämpfung begegneten – wer erinnert sich nicht an die Äußerung von Boris Palmer (Grüne), wir retteten in Deutschland möglicherweise Personen, die „sowieso bald tot“ seien – sind sie in Bezug auf obdachlose Menschen so allgegenwärtig wie eh und je. Sie bestimmen politische Entscheidungen über sie und gesellschaftlichen Umgang mit ihnen, sie finden sich in der Architektur unserer Städte, sie zeigen sich in demütigenden Zurschaustellungen wie in der berühmten Pennymarkt-Doku und sie sind der Grund, weshalb die Bedürfnisse von Menschen ohne festen Wohnsitz selbst in linken Diskursen ständig übersehen werden.
Sozialdarwinismus und speziell die Verachtung von wohnungs- und obdachlosen Menschen ist ein zentraler Faktor der rechtsextremen Ideologie. Die Gewalttaten gegen diese Menschen nehmen zu. Und wir leben generell in Zeiten, in denen Neonazis sich immer weiter militarisieren. All diese Fakten sind bekannt, und wir täten gut daran, eins und eins zusammenzuzählen und die zweitmeist betroffene Gruppe rechter Gewalt endlich in den Fokus antifaschistischer und gewaltpräventiver Bemühungen zu rücken.
Foto: Timo Schlüter