24. November 2020
Kolumne von Özge
Vor 20 Jahren wurden meine Mutter Ayşın und meine damals fünfjährige Schwester Elif auf der Straße von einem Neonazi angegriffen. Ich habe mit meiner Familie noch einmal über das Ereignis und seine Folgen gesprochen. Die dabei entstandenen Gespräche wurden der Reihe nach hier veröffentlicht, heute das letzte Gespräch, das ich mit meinem Vater Fethi geführt und ins Deutsche übersetzt habe.
Ich: Was ist an dem Tag passiert?
Fethi: Ich habe es natürlich erst mitbekommen, als Ayşın mit Elif nach Hause gekommen ist. Da waren ganz viele Nachbarn dabei, und einige sagten, sie hätten gesehen, wie der Täter aus einer bestimmten Kneipe kam und dann wieder reinging. Zu der Kneipe bin ich sofort hingegangen. Ich wollte da einfach präsent sein. Ich bin also rein und sagte sehr laut: irgendein H* hat meine Frau angegriffen, hat jemand was gesehen? Später habe ich erfahren, dass der Täter zu dem Zeitpunkt mit in der Kneipe saß. Ich habe ihn aber nicht erkannt, Ayşın hatte ja einen riesengroßen Kerl beschrieben, mindestens 1,90m, und der war ja eigentlich eher klein. Hätte ich ihn erkannt, wäre das für uns alle nicht gut ausgegangen, weil ich den von der Statur her locker hätte verprügeln können. Naja, die in der Kneipe haben dann gesagt, dass sie nichts gesehen haben und mich – nicht besonders höflich – rausgeschmissen. Die nächsten paar Tage war die Kneipe geschlossen.
Ich: Was waren die Folgen? Wie hat das dein Leben beeinflusst?
Fethi: Ich war ja damals sowieso in der Prenzlberger Antifa aktiv, ich habe dann Freunde kontaktiert, die sich aus der Recherchearbeit in der Berliner Neonaziszene gut auskannten. Die haben ziemlich schnell seinen Namen und seine Adresse rausgekriegt. Er wohnte bei uns in Friedrichshain, um die Ecke von uns, unsere Hinterhofgärten waren sogar verbunden. Ab dem Zeitpunkt war ich nachts immer wach und bin erst schlafen gegangen, als die Sonne aufging, falls er nachts versucht, das Haus anzuzünden. Weil der Typ einfach echt verrückt war. Ich habe später auch mit euch zusammen an der Stelle des Gartens, wo er hätte langgehen müssen, also an einem Zaun, über den er hätte drüberspringen müssen, Erdbeeren gepflanzt – damit die Erde locker ist und man im Zweifel Fußspuren findet. Dass wir das deshalb machen, habe ich natürlich nicht erzählt. Sorry, falls es so wirkt, als hätte ich euch für meine dunklen Zwecke instrumentalisiert! (lacht) Aber was soll man machen, so ist das Leben.
Was dann mit dem Nazi passiert ist, weiß ich nicht, das habe ich meinen Freunden von der Friedrichshainer Antifa überlassen. Ich habe das nie im Detail nachgefragt, weil wir einerseits als Familie und andererseits in der Prenzlberger Antifa ja noch ganz andere Sorgen hatten. Wir haben uns damals mit der Dimitroff 100 befasst, der Danziger Straße 100, da hatten einige Nazis eine Art Quartier, das uns ziemliche Arbeit gemacht hat.
Dieses nachts wachbleiben ist dann blöderweise irgendwann zur Gewohnheit geworden, auch als wir schon längst umgezogen waren. Also ich gehe seitdem erst in den frühen Morgenstunden schlafen. Ich bin aber sowieso eher ein Nachtmensch.
Foto: Özge