10. September 2020
Das Flüchtlingslager #Moria liegt in Schutt und Asche. Die sofortige Aufnahme der Menschen wäre die letzte Chance für die EU-Mitgliedsstaaten, Menschlichkeit zu zeigen. Deutschland hätte die Kapazitäten zu helfen, aber auch im reichen Deutschland fehlt selbst nach diesem Inferno der politische Wille. Gerade in Zeiten von Corona wird in nationalen und europäischen Parlamenten viel von Solidarität, von Werten, Zusammenhalt und Humanität gesprochen. Aber auch die mächtigsten Staatsoberhäupter, die erfolgreichsten Unternehmer, die klügsten Philosophen, Forscher und Humanisten haben #Moria nicht verhindern können oder wollen. Nun ist die Lage eskaliert. Die Menschen, eingeschlossen mit einem tödlichen Virus, gerieten mehr und mehr in Panik. Moria ging in Flammen auf. Tausende Menschen, ein Drittel von ihnen Kinder, mussten mit nichts außer dem, was sie am Leib haben, vor den Flammen fliehen. Tausende Schutzsuchende sind obdachlos geworden.
Seit Monaten berichtet ein Team der Mission Lifeline im Rahmen eines journalistischen Projekts von der Lage auf Lesbos und der Arbeit der lokalen NGOs. Ziel unserer Mission war und ist es, zu verhindern, dass echtes Mitgefühl von persönlichem Ehrgeiz der Mächtigen oder der Ignoranz und Bequemlichkeit der Satten und Zufriedenen überholt wird. Wir zeigten die Projekte und Arbeit vieler wunderbarer Menschen und NGOs, die mit wenigen Mitteln versuchen, diesem Drama gegenüber so verantwortlich zu werden, wie es ihnen möglich ist. Wir wollten uns nicht mit Forderungen oder Petitionen begnügen. Mit unserer Arbeit auf Lesbos wollten wir dort ansetzen, wo die Tragödie stattfindet; mit dem Ziel, die übrige Welt damit zu konfrontieren und denen, die es betrifft Aufmerksamkeit zu schenken. Neben konkreter Hilfe vor Ort wiesen wir auf das Schicksal von Menschen hin, die hinter der verwässerten Schlagzeile „Flüchtlingskrise“ stehen – mit Bildern und eigenen Worten der Betroffenen. Bilder und Worte, die stark genug sind, um die Menschen in der eigenen heilen Welt aus ihrer Gleichgültigkeit herauszuschütteln. Besonders, wenn diese Menschen Politiker und Entscheidungsträger sind.
Wir haben seit Monaten vor einer Eskalation gewarnt, wir haben seit Monaten die unhaltbaren Zustände dokumentiert und sie der Öffentlichkeit gezeigt, wir haben uns seit Monaten um die Evakuierung bemüht, bevor es zu spät ist. Wir haben Regierungen angeschrieben, die Organisation von Charterflügen und die Unterbringung der besonders schutzbedürftigen Menschen in aufnahmebereiten Einrichtungen angeboten. Viele Menschen unterstützten uns. Aber nichts geschah. Die Evakuierung war nicht gewollt. Lager wie Moria sollen ungeachtet des Leids der Menschen aufrechterhalten werden – und zwar so weit entfernt vom eigenen Vorgarten wie möglich. Die immer gleiche Antwort auf unsere Forderungen: Die Aufnahme von Menschen im eigenen Land würde „das Problem“ nicht lösen, man suche nach einer europäischen Lösung. Was heißt das? Es bedeutet, dass nicht das Leid oder der Tod vieler Menschen als das Problem gesehen wird, sondern ausschließlich darin, diese Menschen im eigenen Land aufnehmen zu müssen.
Das Konzept Hotspots – Bearbeitung der Asylanträge in den Hotspots und faire Verteilung der Geflüchteten – ist gescheitert, ohne je umgesetzt worden zu sein. Der Wille der Regierungen aller EU-Mitgliedsstaaten zu einer solidarischen Lösung für die Asylsuchenden bestand und besteht bis heute nicht. Für die Schutzsuchenden waren aus einigen Tagen Wochen, dann Monate und Jahre in den Lagern geworden. In Moria mussten Männer, Frauen und Kinder auf unbestimmte Zeit unter menschenunwürdigsten Bedingungen ausharren. Ohne ausreichend Trinkwasser, Nahrung, Sanitäranlagen, Gesundheitsversorgung. Kinder verletzten sich selbst und nahmen sich aus Verzweiflung das Leben. Und Europa sah zu.
Wir hatten die Hoffnung mit unserer Berichterstattung aus Moria nicht nur die Herzen der Zivilgesellschaft zu erreichen, sondern auch die der europäischen Entscheidungsträger. Wir wollten nicht einfach über die Auswirkungen von Krieg und Globalisierung im Allgemeinen theoretisieren. Wir wollten, dass die Tragödien einzelner Menschen, einer Familie, eines Kindes wahrgenommen werden, damit diesen Menschen ganz konkret geholfen wird.
Wir haben das Herz der Regierenden überschätzt.
Die Katastrophe ist geschehen, weil zu lange nichts getan wurde, obwohl das Wissen um die akute Gefahr da war und Möglichkeiten zu helfen gegeben waren und noch sind. Aus dem Können wächst auch die Verpflichtung. Dieser Verpflichtung ist keines der Länder des reichsten Kontinents der Welt nachgekommen.
Moria liegt in Schutt und Asche. Unter den Trümmern begraben die europäische Idee.
Und dennoch: wir geben nicht auf.
Foto: Niklas Fischer