27. Dezember 2021
Kolumne von Özge
Unwort-Listen gehören zu jedem vernünftigen Jahresabschluss: Begriffe, vor denen uns dieses Jahr keine Talkshow, kein Wochenzeitungs-Dossier und kein Onlinebeitrag verschont haben und bei denen man schon die Augen verdreht, wenn man sie nur hört. Hier sind drei Begriffe, die wir von mir aus dringend in 2021 lassen sollten.
Wer etwas fürs Klima tun will, soll eigenverantwortlich den eigenen Konsum reduzieren. Wer die Pandemie gern beendet sehen würde, soll freiwillig Kontakte einschränken. Wer für die Aufnahme von Geflüchteten ist, soll eben bei sich zu Hause – oder doch nicht?
Die Individualisierung politischer Aufgaben hat in den letzten Jahren ohnehin Hochkonjunktur, aber 2021 trieb das ganze noch einmal auf die Spitze. Wir kennen diesen argumentativen Fallstrick, und während wir darüber in bestimmten Fällen nur müde lächeln, spannen wir ihn in anderen Fällen mit Genugtuung selbst auf.
Es geht natürlich nicht darum, einen nachhaltigeren Konsum oder die freiwillige Kontaktbeschränkung oder auch die private Aufnahme Geflüchteter für wirkungslos zu erklären. Das sind alles nützliche und gute Verhaltensweisen.
Aber die Kehrseite von Verantwortung ist Schuld. Wer jemandem Verantwortung zuschreibt, wird, wenn der Verantwortung – tatsächlich oder vermeintlich – nicht nachgekommen wird, zu Schuldzuweisungen übergehen. Eine Schuldzuweisung ist jedoch nur dann gerecht, wenn sie sich an der Verteilung der Macht orientiert. Wer sich dagegen mit einer unverhältnismäßigen Schuldzuweisung konfrontiert sieht, bleibt selten sachlich und konstruktiv.
Dabei gibt es eine ganze Reihe an Personal, das nicht nur als einziges dazu ausgerüstet, sondern auch als einziges dazu verpflichtet ist, gesamtgesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Wir nennen sie Politiker. Wer ihnen bereitwillig mithilft, ihre beruflichen Kernaufgaben auf die Gesellschaft auszulagern, den braucht die sogenannte Spaltung ebenjener nicht zu wundern.
Sowohl in konservativen Kreisen als auch in solchen, in denen man sich „progressiv“ nennt, gehört es inzwischen zum guten Ton, über gesellschaftliche Spaltung zu klagen. Natürlich nicht ohne hinterherzuschieben, dass die selbstverständlich von beiden Seiten ausgehe – es könnte ja sonst jemand auf die Idee kommen, man habe eine Haltung.
Manche Menschen lieben nichts mehr, als sich in die Rolle des professionellen Drüberstehers zu begeben und den streitenden Pöbel aus sicherer Distanz zurechtzuweisen.
Es hilft dann auch nichts, anzumerken, dass eine Klassengesellschaft kraft Natur der Sache gespalten daherkommt, nämlich in erster Linie entlang von Eigentumsverhältnissen, denn diese Spaltung ist selbstverständlich nicht gemeint. Auch die Einteilung in mit Grundrechten ausgestattete EU-Bürger und mit absolut nichts ausgestattete und daher zu Zehntausenden sterbende Flüchtende ist eine Spaltung, mit der man sich diesseits der Mauern arrangieren kann. Über diese Spaltungen gibt es nichts zu klagen, sie gehören zum Leben wie das morgendliche Zähneputzen und die abendlichen Überstunden. Wenn sich aber plötzlich Grenzen offenbaren, die ihnen nicht geheuer sind, die sich um ausgedachte Konstrukte wie politisch sensible Sprache drehen statt um Naturgesetze wie Staatsbürgerschaft und Eigentum, werden die ewig Moderaten ungemütlich. Dann verlangen sie mit strengem Blick, dass man sich schleunigst die Hände reichen und einen wie auch immer gearteten Kompromiss finden möge, wie es sich in einer Demokratie gehört.
Wäre die bürgerliche Gesellschaft ein Film, wäre der Kompromiss ihr MacGuffin: ein Handlungsziel, dessen einzige Funktion darin besteht, den Figuren eine Motivation zu geben, nämlich das Streben nach ihm. Es hat keine Relevanz aus sich heraus und dient allein als Motor für die Geschichte.
Während der Kompromiss in der Politik einen ganz praktischen Sinn erfüllt, nämlich die Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen herzustellen, ist er im gesellschaftlichen Diskurs zum ultimativen Selbstzweck avanciert. Einzelpersonen verwechseln sich dieser Tage routinemäßig mit dem Staat und beklagen die angeblich allerorten mangelnde Kompromissbereitschaft, als sei irgendetwas gewonnen, wenn wir nur alle endlich unsere Haltungen aufweichten. Dass politische Debatten nicht sich selbst dienen, sondern auch und gerade in der Demokratie eine Funktion erfüllen, ist keine besonders trendige Auffassung, aber leider wahr. Wir werden früher oder später der Tatsache ins Auge blicken müssen, dass die unentwegt diskutierende Öffentlichkeit keinem Zeitvertreib nachgeht, sondern dabei ist, Wesen und Umsetzung politischer Ziele wie Gerechtigkeit, Freiheit, Wohlstand und so weiter auszutarieren. Es ist ein Hirngespinst, die sinnvolleren Vorschläge im Hinblick auf diese Ziele automatisch in der „Mitte“ zu vermuten. Für diese Annahme gibt es ideengeschichtlich schlicht und einfach keinen Anlass. Zumindest, wenn man nicht die schnöde Hufeisentheorie bemühen will, mit der man inzwischen höchstens Jugend-Debattiert-Kandidaten hinter dem Ofen hervorlockt, deren gesamte Weltanschauung auf zwei Broschüren der Bundeszentrale für politische Bildung und einer Staffel Heute-Show fußt.
Erst recht, wenn jemand Ziele verfolgt, denen wir selbst keine Bedeutung beimessen oder die wir gar ablehnen, gibt es außer dem Harmoniebedürfnis einiger ZEIT-Redakteure keinerlei Gründe, mit dieser Person einig zu werden. Nichts wird schlechter oder besser, die Verhältnisse werden weder demokratischer noch autoritärer, wenn sich zwei Normalbürger uneinig sind. Wer Angst vor den Meinungen anderer Leute hat, sollte aufhören, das mit dem Vorwurf der fehlenden Kompromissbereitschaft zu kaschieren und sich stattdessen aus politischen Debatten heraushalten.
Foto: Timo Schlüter