22. November 2021
Marwa Sohrabi war noch ein kleines Mädchen, als die Taliban zuletzt an der Macht waren. Aber sie kann sich noch gut an die Zeit erinnern. Als Frauen nicht ohne einen Mann an ihrer Seite vor die Tür gehen durften. Als es ihnen verboten war, in der Öffentlichkeit ihr Gesicht zu zeigen. „Damals waren Frauen wie Sklaven“, sagt sie. „Jetzt ist es genauso wie damals. Ich fühle mich 20 Jahre zurückversetzt.“
Sechs Jahre lang arbeitete Marwa im Bawar Media Center (BMC) der Bundeswehr in Masar-i-Scharif. Sie und ihre Kollegen warnten die Menschen in Afghanistan zum Beispiel in sozialen Netzwerken vor den Taliban – erklärten ihnen, dass sie Terroristen seien. Dass sie ihnen weder trauen noch helfen sollten. „Ich war Übersetzerin und Media-Analystin“, sagt sie. „Andere Soldaten kämpfen mit Waffen. Ich habe mit meinem Laptop gegen die Taliban gekämpft.“
Aber nur wenige Tage später war auch die Hauptstadt unter Kontrolle der Terroristen. Marwa versteckte sich mit ihrem Mann Hasib und ihren zwei Kindern Edris (3) und Daneya (5) in einem Hotelzimmer. „Wir wussten nicht, was wir tun sollten, wohin wir gehen sollten“, erinnert sie sich. Das Geld wurde knapp. Einen Weg zurück gab es nicht. „Zuhause wussten die Menschen, dass ich für die Deutschen gearbeitet habe.“ Marwa war sich sicher: Sollten die Taliban sie finden, würde man sie und ihre Familie sofort umbringen.
Der 19. August sollte alles verändern. Eigentlich. Ihr Telefon klingelte um zwei Uhr nachmittags. Die Bundeswehr rief an. „Man sagte uns, wir sind auf der Evakuierungsliste. Wir sollten zum Abbey Gate am Flughafen gehen.“ Dort würden sie Spezialkräfte abholen. Aber sie kamen nicht. „Ich war so glücklich, dass man uns retten will. Doch es war unmöglich, deutsche Soldaten zu finden“, erinnert sie sich. „Da waren tausende Menschen.“ Sie versuchten es an vier verschiedenen Tagen – vergeblich. „Dann sahen wir, wie eine schwangere Frau in der Menschenmenge hinfiel.“ Niemand habe ihr geholfen. „Und dann sind die Menschen einfach über sie getrampelt.“ Sie konnten dort nicht bleiben, erzählt sie. „Ich sagte zu meinem Mann: Wir müssen gehen, sonst verlieren wir vielleicht unsere Kinder – und unsere Leben.“
Die Familie versteckte sich vier weitere Wochen in Kabul. Dann waren die Ersparnisse aufgebraucht. „Wir hatten keine andere Wahl: Wir haben uns in einem Bus wieder auf den Weg nach Masar-i-Scharif gemacht, um bei Verwandten unterzukommen.“ Auf dem Weg passierten sie zwei Taliban-Checkpoints.
Die nächsten Wochen waren Marwa und ihre Familie Gefangene in ihrer eigenen Heimat. Sie verließen das Haus nicht. Versuchten, nicht aufzufallen. Immer wieder recherchierte Marwa nach Möglichkeiten, das Land zu verlassen. „Irgendwann meldete sich Mission Lifeline bei uns. Sie halfen uns, Pässe, Visa und Flugtickets zu bekommen.“ Dann lächelt sie. „Auf einmal haben so viele Deutsche für uns gespendet. Sie haben das möglich gemacht.“
Drei Monate zuvor schwor sich Marwa noch, ihre Familie vom Flughafen Kabul fernzuhalten. Jetzt sollte sie es ein fünftes Mal probieren. „Ich verschleierte mein Gesicht, mein Mann hat sich einen Bart wachsen lassen.“ Sie wollten sich unsichtbar machen. Und es hat funktioniert. „Wir schafften es in den Flieger. Als er abhob, waren wir unendlich glücklich.“
Jetzt lebt die Familie in einem kleinen Hotelzimmer in Islamabad. Vorerst. In den nächsten Tagen werden sie nach Deutschland fliegen. Marwa freut sich. „Ich habe es nie bereut, mit den Deutschen zu arbeiten“, sagt sie. „Auch wenn es meine Familie und mich in Gefahr gebracht hat. Unser Job war wichtig. Wir mussten gegen die Taliban kämpfen.“
Fotos: Achim Schmidt
Text: Kathrin Braun