23. Oktober 2023
Kolumne von Özge Inan
Dass nach dem siebten Oktober nichts sein würde wie vorher, war schnell klar. Anderthalbtausend Tote auf einen Schlag, das ist die Art von Schmerz, die sich wie ein Fluch auf ein Volk legt und ihm noch Generationen später in den Knochen sitzt. Es gibt wenig zu sagen und unendlich viel zu weinen. Weil aber Sprachlosigkeit in der Regel uns befällt, die wir ein Gewissen haben, und die Hasserfüllten ewig weiterbrüllen, müssen wir uns Worte abringen, egal, wie schwer es fällt. Daher dieser Text.
Er handelt von einem Ort, der gerade womöglich zweitrangig, aber nun einmal unser Lebensmittelpunkt ist, nämlich Deutschland. Und er handelt von einer Sache, von der die meisten Deutschen weniger verstehen, als sie glauben, nämlich dem Verhältnis zwischen der jüdischen und der türkisch-arabischen Minderheit. Ich kann und möchte kein Gesamtbild, keine Bestandsaufnahme geben. Es ist die Perspektive einer Einzelperson von vielen, die auf die ein oder andere Art in dieser Misere drinhängen.
Die jüdische Diaspora hat Angst. Nicht die diffuse, alltägliche Sorge, die das Leben abseits der weiß-deutsch-christlichen Mehrheitsgesellschaft begleitet, sondern konkrete, handfeste Angst. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus zählt seit den Hamas-Angriffen 202 antisemitische Vorfälle bundesweit, 240 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Übersetzt bedeutet das: Im Land der Shoa schauen Juden wieder über die Schulter, bevor sie auf der Straße hebräisch sprechen. Nach wem halten sie Ausschau? “Bislang war ich davon überzeugt”, schreibt Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen, “dass die Mehrheit der Muslime Gewalt gegen Juden verurteilt. Doch es ist eine bittere Erkenntnis: Die Bilder der vergangenen Tage legen nahe, dass das Gegenteil der Fall ist.”
Längst nicht alle Jüdinnen und Juden empfinden so. Es ist eine Verallgemeinerung, die sich statistisch nicht hält. Zur Wahrheit gehört aber auch: 41 Prozent der deutschen Jüdinnen und Juden, die Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, halten die Täterinnen und Täter für islamistisch motiviert. Bei einem muslimischen Bevölkerungsanteil von sechseinhalb Prozent ist das eine Häufung, die sich nicht wegdiskutieren lässt – auch nicht durch die 93 Prozent der antisemitischen Straftaten, die laut BKA rechtsextremistischen Hintergrund haben sollen. Betroffenen glauben, Selbstauskunft vor Polizeistatistik, wenn diese Grundsätze nicht auch für jüdische Menschen gelten, sind sie nichts wert.
Die Idee, diesem Problem mit schärferen Abschieberegeln zu begegnen, ist nicht neu. Ich werde nicht darauf eingehen, wer sie mit welcher Motivation instrumentalisiert, auch nicht auf die kriminologische Bewertung der Abschiebung als Mittel der Kriminalitätsbekämpfung (der Vollständigkeit halber: um die steht es nicht besonders gut). Ich werde sie allein als das behandeln, wofür sie vorgeschlagen wird, nämlich als Schutzkonzept für jüdisches Leben.
38 Prozent aller Muslime sind ausschließlich deutsche Staatsbürger, neun Prozent haben sowohl einen deutschen als auch einen ausländischen Pass. Wissen tun wir darüber nichts, aber nehmen wir einmal an, dass eine relevante Anzahl der Antisemiten, die wir erwischen wollen, unter den restlichen 53 Prozent sind. Natürlich ist es ein Irrglaube, dass jeder ausländische Staatsbürger automatisch abgeschoben werden kann. Ein Afghane oder eine Syrerin beispielsweise sind in je 90 und 83 Prozent der Fälle asylberechtigt, hier ist schon völkerrechtlich nichts zu machen. Und die, die man eben doch des Landes verweisen könnte – hören die auf, jüdisches Leben zu bedrohen? Tunesier vielleicht, Türken oder Libanesen? Der Anschlag auf die Al-Ghriba-Synagoge in Tunesien mit drei Toten und neun Verletzten ist kein halbes Jahr her. In der Türkei kommt es in diesen Tagen zu Anti-Israel-Protesten, deren Wortführer ganz offen von Juden als “niederer als Tiere” sprechen. Aus dem Libanon heraus wird Israel gerade mit Raketen beschossen, die ganze Welt zittert vor einer Eskalation. Kurz gesagt: Selbst, wenn man alle humanistischen Grundsätze vergisst, die Abschiebungen ohnehin unethisch machen, sie taugen im Kampf gegen Antisemitismus schlicht und ergreifend nichts.
Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als Lösungen im Hier und Jetzt zu finden. Wie die aussehen, wird Thema vieler weiterer Texte sein und bleiben. Deutschland ist eins von zahllosen Ländern, die wir Menschen aus muslimischen Ländern und der jüdischen Diaspora uns teilen, und wir können auf viele Epochen unserer langen gemeinsamen Geschichte blicken, die friedlich waren. Wir können Beweise finden für unsere Fähigkeit, zusammenzuleben. Entweder wir halten zueinander und stellen uns gemeinsam gegen Antisemitismus, oder wir geben uns dem Gemetzel hin. Dafür müssen wir an keinen Gott glauben und an keine höhere Gewalt. Unsere einzige Mission ist das Leben.
Ob Mittelmeer, Ukraine oder Afghanistan – wir unterstützen Menschen auf Flucht. Nur durch deine Hilfe können wir unsere Rettungseinsätze realisieren. Jeder Betrag bewirkt, dass wir Menschen in Seenot und aus anderen lebensbedrohlichen Situationen retten können.
Foto: Timo Schlüter