Angesichts der weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant:innen, Asylsuchende und Geflüchtete in Tunesien, insbesondere gegen Schwarze Menschen; des Fehlens eines Asylsystems in Tunesien; des harten Vorgehens der tunesischen Regierung gegen die Zivilgesellschaft, die fehlende Unabhängigkeit von Justiz und Medien; sowie der Unmöglichkeit, auf See die Nationalitäten von Migrantinnen und Asylsuchenden fair und individuell zu bestimmen oder den Schutzbedarf zu bewerten, ist klar, dass Tunesien kein sicherer Ort für die Ausschiffung von auf See abgefangenen oder geretteten Personen ist. Die anhaltende Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union (EU), den EU-Mitgliedstaaten und Tunesien in der Migrationskontrolle, die die Möglichkeit einschließt, Menschen, die auf See gerettet oder abgefangen wurden, in Tunesien an Land zu bringen – ähnlich wie bei der früheren Zusammenarbeit mit Libyen – trägt dabei zu Menschenrechtsverletzungen bei.
Europäische Maßnahmen zur Externalisierung des Grenzmanagements nach Tunesien unterstützen Sicherheitsbehörden, die schwerwiegende Verstöße begehen. Sie behindern zudem das Recht der Menschen, jedes Land zu verlassen und Asyl zu suchen, und führen dazu, dass Geflüchtete und Migrant:innen in Ländern festgehalten werden, in denen ihre Menschenrechte gefährdet sind. Darüber hinaus gefährdet die Ausschiffung in Tunesien die Betroffenen und setzt sie ernsthaften Gefahren aus, insbesondere dem Risiko der kollektiven Ausweisung nach Libyen und Algerien, was das Prinzip des Non-Refoulements verletzen kann. Die am 19. Juni 2024 von der Europäischen Kommission geforderte und unterstützte Einrichtung der tunesischen Such- und Rettungszone (SRR) droht, ein weiteres Instrument zur Verletzung von Menschenrechten zu werden, anstatt der legitimen Erfüllung der Verantwortung für den Schutz der Sicherheit auf See. Die Kooperation der EU und ihrer Mitgliedstaaten mit Tunesien, die sich an der Zusammenarbeit mit Libyen orientiert, könnte die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende normalisieren und das internationale Such- und Rettungssystem untergraben, indem es für Migrationskontrollzwecke missbraucht wird.
Als humanitäre und Menschenrechtsorganisationen fordern wir die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, ihre Zusammenarbeit mit den tunesischen Behörden zur Migrationskontrolle zu beenden, die für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen auf See und in Tunesien verantwortlich sind. Seenotrettungsorganisationen sowie Handelsschiffe sollten nicht angewiesen werden, Personen in Tunesien an Land zu bringen.
Weit verbreitete und wiederholte Menschenrechtsverletzungen
Ergebnisse von tunesischen und internationalen Organisationen sowie UN-Gremien der letzten zwei Jahre zeigen, dass Tunesien nicht als „sicherer Ort“ für auf See abgefangene oder gerettete Menschen, insbesondere für Schwarze Menschen, angesehen werden kann, wie ein “sicherer Ort” in der SAR-Konvention von 1979, dem Schiffssicherheitsausschuss (MSC) und UN-Gremien definiert wird.
Obwohl Tunesien die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet hat, gibt es weder ein nationales Asylgesetz noch ein Asylsystem. Personen, die das Land irregulär betreten, sich dort aufhalten oder es verlassen, werden nach tunesischem Recht kriminalisiert. Nach Abfangaktionen auf See oder willkürlichen Verhaftungen auf tunesischem Boden haben die tunesischen Behörden wiederholt Geflüchtete, Asylsuchende und Migrantinnen in der tunesischen Wüste oder abgelegenen Grenzregionen zu Libyen und Algerien ausgesetzt. Diese Praktiken können rechtswidrige kollektive Ausweisungen darstellen, die das Recht von Flüchtlingen und Migrantinnen auf Leben völlig ignorieren und das Prinzip des Non-Refoulements verletzen könnten. Die ausgewiesenen Personen sind in Libyen ernsthaften Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt und riskieren weitere Ausweisungen von Algerien nach Niger. Laut Berichten, die sich auf UN-Informationen stützen, haben die tunesischen Sicherheitskräfte insbesondere Menschen, die als irreguläre Migrantinnen auf dem Land vermutet wurden, festgenommen und direkt an die libyschen Behörden überstellt. Diese haben sie anschließend willkürlich inhaftiert, zur Zwangsarbeit gezwungen, erpresst, gefoltert, anderweitig misshandelt und rechtswidrig getötet.
Laut den Berichten von Flüchtlingen Migrantinnen und Asylsuchenden, die von Amnesty International, Human Rights Watch, OMCT und Alarm Phone dokumentiert wurden, haben tunesische Behörden auf See Missbrauch begangen und Menschen während Bootsabfangaktionen in Gefahr gebracht – unter anderem durch Hochgeschwindigkeitsmanöver, die drohten, die Boote zum Kentern zu bringen, durch körperliche Gewalt, den Einsatz von Tränengas aus nächster Nähe und Kollisionen mit den Booten. Zudem versäumen die tunesischen Behörden bei der Ausschiffung systematisch individuelle Schutzbedarfsprüfungen durchzuführen. Tunesische Behörden haben auch Flüchtlinge, Asylsuchende und Migrantinnen im Kontext von Ausschiffungen, Inhaftierungen oder kollektiven Ausweisungen gefoltert und anderweitig misshandelt.
Gleichzeitig melden mehrere internationale und lokale Organisationen sowieMenschenrechtsverteidigerinnen und Anwältinnen eine alarmierende Verschlechterung bürgerlichen Freiheiten und Grundrechte in Tunesien von denen sowohl die migrantische Community als auch tunesische Bürgerinnen betroffen sind. Seit 2021 hat das Land einen erheblichen Rückschritt der Menschenrechtslage zu verzeichnen. Dazu zählt der Abbau institutioneller Schutzvorkehrungen für die Wahrung der Menschenrechte, der Abbau der Unabhängigkeit der Justiz und hartes Vorgehen gegen die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Ausschiffung tunesischer Staatsangehöriger in Tunesien kann damit auch Menschen betreffen, die vor Verfolgung, Folter oder anderen gravierenden Gefahren fliehen und im Ausland Asyl beantragen wollen. In diesem Fall würde Menschen, die internationalen Schutz suchen, ihr Recht auf Asyl verweigert.
Die Mitschuld der Europäischen Union an Menschenrechtsverletzungen
Trotz der dokumentierten Menschenrechtsverletzungen durch tunesische Behörden haben die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Unterstützung für die Regierung von Kais Saïed verstärkt. Durch die im Juli 2023 unterzeichnete Absichtserklärung (Memorandum of Understanding) hat die EU Tunesien 1 Milliarde Euro zugesagt, darunter 105 Millionen Euro, für die Grenz- und Migrationskontrolle. Als erwartete Gegenleistung sollte Tunesien Abfahrten über das Mittelmeer Richtung Europa verhindern, einschließlich von Menschen, die Schutz benötigen. Mit der Umsetzung einer tunesischen Such- und Rettungszone (SRR) hat die tunesische Regierung ein langjähriges Ziel der EU erfüllt. Während dies einerseits einen formellen Schritt zur Erfüllung der tunesischen Verantwortung zum Schutz des Lebens auf See darstellt, besteht in der Realität die Gefahr, dass europäischen Rettungskoordinierungszentren (RCC) Seenotrettungsfälle innerhalb der tunesischen SRR an das tunesische RCC verweisen werden, wodurch EU-Akteure sich zugunsten Akteuren mit einer schlechten Menschenrechtsbilanz zurückziehen.
Die EU unterstützt die verstärkte Rolle der tunesischen Küstenwache (Nationalgarde), obwohl diese keinerlei Menschenrechtsstandards folgt und keine Überwachungssysteme oder andere Vorkehrungen getroffen hat um sicherzustellen, dass aus Seenot Gerettete an einem sicheren Ort – unter Ausschluss von Tunesien – an Land gehen. Indem die EU die Rolle der tunesischen Küstenwache unterstützt, trägt sie dazu bei, dass sich das Risiko weiterer schwerer Menschenrechtsverletzungen von Flüchtlingen, Migrantinnen und von Verfolgung bedrohten Tunesierinnen auf See und an Land erhöht.
Der humanitäre Spielraum für Seenotrettungs-NGOs wird weiter eingeschränkt, wenn europäische RCCs zivile Seenotrettungsschiffe anweisen, sich mit der neu eingerichteten tunesischen MRCC in Verbindung zu setzen, um Ausschiffungen in Tunesien durchzuführen, was sie möglicherweise ablehnen, um das Prinzip des Non-Refoulements zu wahren. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat festgestellt, dass Schiffe auf See nicht der geeignete Ort sind, um Schutzbedarfe zu bestimmen. Nach internationalem Seerecht sind in erster Linie Staaten dafür verantwortlich, Rettungsmaßnahmen innerhalb ihrer SRRs zu koordinieren und die Ausschiffung an einem sicheren Ort sicherzustellen. Dabei kann auch ein anderer Staat als der eigener für die Ausschiffung zugewiesen werden.
Europäische Unterstützung für Menschenrechtsverletzungen muss beendet werden
Die hier erörterten Entwicklungen folgen einem Muster, das bereits seit 2016 in Libyen zu beobachten ist. Neben materieller, technischer und politischer Unterstützung haben die EU und Italien die Einrichtung einer libyschen SRR und eines libyschen MRCC unterstützt, was zur Übertragung der Verantwortung für die Koordination und Durchführung von Rettungsaktionen auf die libysche Küstenwache und zu vermehrten Rückführungen und Ausschiffungen in Libyen führte, obwohl bekannt war, dass dies Flüchtlinge und Migrantinnen dem ernsthaften Risiko grausamer und tödlicher Menschenrechtsverletzungen in Libyen aussetzt.Trotz dessen haben sowohl die italienische Regierung als auch die EU-Institutionen diese Zusammenarbeit nicht nur fortgesetzt, sondern versucht, sie auf andere Länder, einschließlich Tunesien, auszudehnen.
Wir fordern daher die EU und ihre Mitgliedstaaten auf:
● Die tunesischen Behörden dazu aufzufordern, die Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge, Asylsuchende und Migrant*innen zu beenden, insbesondere in Bezug auf lebensgefährliche und rechtswidrige kollektive Ausweisungen.
● Die tunesischen Behörden dazu aufzufordern, das harte Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft zu beenden.
● sicherzustellen, dass Seenotrettungsorganisation und Handelsschiffe nicht dazu angewiesen werden, aus Seenot gerettete Menschen in Tunesien auszuschiffen, da sie dort Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt werden könnten und der individuelle Schutzanspruch auf See nicht ermittelt werden kann. Tunesien kann nach geltendem Völkerrecht nicht als sicherer Ort für aus Seenot gerettete Personen gelten.
● Die finanzielle und technische Unterstützung für tunesische Behörden einzustellen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang von Grenz- und Migrationskontrollen verantwortlich sind.
Afrique-Europe Interact
Alarme Phone Sahara (APS)
All Included Amsterdam
Amnesty International
Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione (ASGI)
Association CALAM
Association for Justice, Equality and Peace
Association Lina Ben Mhenni
Association Marocaine d’aide des Migrants en Situation Vulnérable (AMSV)
Association pour la promotion du droit à la différence (ADD)
Association Sentiers-Massarib
Association tunisienne de défense des libertés individuelles
Aswat Nissa
Avocats Sans Frontières (ASF)
BAOBAB EXPERIENCE
Campagna LasciateCIEntrare – MaipiuCIE
Carovane Migranti
CCFD-Terre Solidaire
Chkoun? Collective
Comité de Sauvegarde de la LADDH
Comité pour le respect des libertés et des droits de l’Homme en Tunisie (CRLDHT)
CompassCollective
Damj – l’Association Tunisienne pour la justice et l’égalité
Dance Beyond Borders
EMERGENCY
Fédération des Tunisiens pour une Citoyenneté des deux Rives (FTCR)
Fédération Internationale pour les Droits Humains (FIDH)
Forum Tunsien pour les Droits Economiques et Sociaux (FTDES)
FUNDACION SOLIDAIRE
Human Rights Watch
Intersection pour les droits et les libertés
iuventa-crew
L’association Tunisienne pour les Droits et les Libertés (ADL)
La Cimade
LDH (Ligue des droits de l’Homme)
Maldusa
Médecins Sans Frontières
MEDITERRANEA Saving Humans
Melting Pot Europa
migration-control.info project
Migreurop
Missing Voices (REER)
Mission Lifeline International e.V.
PRO ASYL Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge e.V.
r42-SailAndRescue
Reclaim the Sea
Refugees in Libya – APS
Refugees Platform In Egypt (RPE) منصة اللاجئين في مصر
Resqship
SALVAMENTO MARITIMO HUMANITARIO -SMH
SARAH Seenotrettung gUG
Sea-Eye e.V.
Sea-Watch e.V.
Search and Rescue Malta Network
Seebrücke
SOS Humanity e.V.
SOS MEDITERRANEE
Statewatch
Union des diplômés-chômeurs (UDC)
United4Rescue – Gemeinsam retten e.V.
Univ. of Southern California Gould School of Law Immigration Clinic
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