28. September 2021
Kolumne von Özge
Merkel ist weg. Sechzehn Jahre lang war sie Bundeskanzlerin und mindestens einmal im Quartal mussten erklärfreudige Journalist:innen ihren besonnen-zurückhaltenden Politikstil analysieren oder „einordnen“, wie es neuerdings heißt. Gerade in den vergleichsweise fortschrittlichen Teilen der Medienszene konnten nur wenige ihre Bewunderung für die konservative Kanzlerin verstecken. Zu Trump-Zeiten hatte dieses Narrativ seine Blütezeit: Angela Merkel als Gegenentwurf zu den Lauten und Ahnungslosen, die andere Staaten regieren. Diese Behandlung hat sie nicht verdient.
Es gibt viele Beispiele merkwürdiger Sympathiebekundungen von medial einflussreichen Leuten, die sonst nicht gerade durch CDU-Nähe auffallen. So frohlockte Satiriker Jan Böhmermann zu Anfang der Pandemie in einem Tweet über den beruflichen Hintergrund Merkels, offenbar in der inzwischen wohl hinfälligen Annahme, dieser werde uns vor einer fehlgeleiteten Pandemiepolitik schützen.
Trotzdem einfach doch bisschen geil eine furztrockene promovierte Naturwissenschaftlerin als Regierungschefin zu haben gerade jetzt, Leute. Ich sags Euch wie es ist.
— Jan Böhmermann ???????? (@janboehm) April 6, 2020
Fairerweise hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht herausgestellt, dass auch eine promovierte Physikerkanzlerin es nicht für nötig hält, ihre Fraktion davon abzuhalten, sich mit Maskendeals die Taschen vollzumachen. Dass sie von der Korruption gewusst haben muss, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten, der um ihre innerparteiliche Position weiß. Die Ausmaße ihrer Macht auch über Partei- und sonstige Zuständigkeitsgrenzen hinaus sahen wir im Februar 2020, als sie mal eben mit zwei Sätzen die Karriereplanung des Thomas Kemmerich platzen ließ.
Angela, do your thing, hätte man bei Klöckner, Spahn, Scheuer und den vielen anderen laufenden Desastern in ihrem Kabinett rufen können – man tat es nicht. Zu keinem Zeitpunkt musste die Regierungschefin das tun, was eine Chefin eben tut, nämlich Verantwortung für ihr Personal übernehmen. In den Zeitungen, auf den Talkshowbühnen und in den Kommentarspalten spuckten Menschen, die sich selbst als links bezeichnen, Gift und Galle gegen das Kabinett, aber die Frau mit der Richtlinienkompetenz wollte man in ihrer besonnenen Zurückhaltung lieber nicht stören. Wie um diesen Unsinn noch auf die Spitze zu treiben, witzelten einige, Merkel werde sicherlich dieses Jahr die Grünen wählen, so untragbar sei Laschet. Als wären wir und die Kanzlerin der Bundesrepublik dieser Person gleichermaßen ausgeliefert. Als hätte die mächtigste Frau der Welt keinerlei Einflussmöglichkeiten auf die Sperenzien ihres designierten Nachfolgers.
Die afroamerikanische Dichterin Gayle Danley schrieb in ihrem Gedicht “Funeral Like Nixon’s“ über den Tod des rechtspopulistischen US-Präsidenten Richard Nixon: “Let me break this down for you: you see/ I just want to die like a white man/ blameless/ timeless/ ageless“. So geht nun auch Merkel. Nach sechzehn Jahren Aufrüstung bei Polizei und Militär, Verschärfung der nationalen und europäischen sozialen Ungleichheit, schmutzigen Waffen- und Flüchtlingsdeals mit Diktatoren, Militarisierung rechtsextremer Netzwerke, Herauszögern selbst der banalsten Klimaschutzmaßnahmen und so weiter – die Liste ist endlos – geht Merkel in Rente. Die sogenannten „Progressiven“ hatten all das schon vergessen und verziehen, bevor sie ihren Rückzug überhaupt angekündigt hatte. Einsortiert und abgeheftet in der In der Im-Großen-und-Ganzen-in-Ordnung-Kategorie. Man kann sich als Politikerin nur wünschen, eines Tages zu gehen wie sie. Es bleibt abzuwarten, ob kommende Generationen das Bild korrigieren.
Foto: Timo Schlüter