28. Juni 2022
Kolumne von Özge
Normalerweise kann ein türkischer Präsident höchstens zwei Legislaturperioden im Amt bleiben. Aber seit die Zustände in der Türkei zuletzt normal waren, ist viel Wasser unter der ersten, zweiten und dritten Brücke hindurchgeflossen. Per Verfassungsänderung 2017 wurde ein neues Präsidialsystem eingeführt. An einem sonnigen Donnerstag Anfang Juni diesen Jahres verkündete Recep Tayyip Erdoğan vor einem begeisterten Publikum in Izmir, er werde bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Juni 2023 kandidieren – ein drittes Mal.
Was von außen wie eine klare Verletzung der verfassungsrechtlichen Amtszeitbegrenzung aussieht, ist es von innen zwar auch, aber die Zeiten, in denen eindeutige Sachverhalte auch eindeutig beschrieben werden konnten, liegen lange hinter uns. Die Regierungskoalition argumentiert, mit dem neuen System im Jahr 2017 sei auch das Amt des Präsidenten neu geschaffen und Erdoğan in den darauffolgenden Wahlen 2018 neu in dieses Amt gewählt worden. Diese erste Amtsperiode laufe 2023 aus, die angekündigte Kandidatur sei also erst die zweite.
Unter normalen Umständen würde die Opposition gegen dieses Spielchen Sturm laufen. Ein Präsident ist ein Präsident. Dass das Bündnis aus sechs Oppositionsparteien, das sich zur Aufstellung eines gemeinsamen Kandidaten formiert hat, den Verfassungsbruch quasi widerspruchsfrei geschehen lässt, hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen sehen viele in der ungewöhnlich frühen Verkündung von Erdoğans Kandidatur ein Ablenkungsmanöver: der Regierung würde es nur allzu sehr in die Hände spielen, wenn das Land sich in den kommenden Monaten in Personaldebatten stürzt, statt die katastrophale Wirtschaft zu besprechen. Da der Herausforderer noch nicht feststeht, formuliert Erdoğan immer wieder diffuse Anfeindungen ohne klaren Adressaten – denn sich zurückziehen und warten, wie es etwa Angela Merkels Art war, kann und will er nicht. In der Zwischenzeit geben sich die Vorsitzenden der sechs Parteien des Oppositionsbündnisses sachlich, unaufgeregt, lösungsorientiert. Je deutlicher sie sich in dieser Phase, kurz bevor der offizielle Wahlkampf startet, von Erdoğan abheben, desto leichter wird es ihr gemeinsamer Kandidat später haben. Dazu gehört auch, Angriffe ins Leere laufen zu lassen – selbst wenn sie in einem Verfassungsbruch bestehen.
Der zweite Grund hängt damit unmittelbar zusammen. Die Regierungskoalition hat mit Erdoğans Kandidatur bewiesen, dass sie 2023 keine Erneuerung anbieten wird. Stattdessen bedeutet diese Kandidatur ein „Weiter so“, wie es hierzulande heißt. Hätte die AKP einen neuen, womöglich sogar jüngeren Kandidaten in die höchstpräsidialen Fußstapfen treten lassen, hätte sie den Wahlkampf mit neuen Konzepten und einem frischen Wind geführt, hätte es die Opposition schwerer gehabt – nicht nur mit ihrem Kandidaten, sondern auch mit ihrem erklärten Ziel, das Präsidialsystem wieder abzuschaffen. Jetzt braucht der Herausforderer nur noch ein Argument: nicht Erdoğan sein. Nicht das Einmannsystem, den religiösen Autoritarismus, das ganze Unheil der letzten zwei Jahrzehnte repräsentieren. Dieses Argument könnte durchaus reichen, um Erdoğans Untergang einzuleiten.
Die einzige relevante linke Kraft in der türkischen Parteienlandschaft im Übrigen, die HDP, ist kein Teil des oppositionellen Sechserbündnisses. Zu tief reichen die Gräben zwischen ihnen und den säkularen Ultranationalisten um Meral Akşener, Vorsitzende der zweitstärksten Oppositionspartei. Für ethnische Minderheiten und Linke im Land wird die ersehnte Demokratisierung, die das Sechserbündnis gerade in den schillerndsten Farben malt, wohl noch viele weitere Amtszeiten vieler weiterer Präsidenten auf sich warten lassen.
Foto: Timo Schlüter