15. August 2021
Kolumne von Lamya Kaddor
Die westliche Staatengemeinschaft unter Führung der USA hat schon oft in der Geschichte versagt. Doch so erbärmlich wie in Afghanistan war es selten zu sehen.
Wenn Syrien das Horrorbeispiel dafür ist, was passiert, wenn sie nichts tut, ist Afghanistan das Horrorbeispiel dafür, wenn sie ihre Sache nicht zu Ende bringt.
Wenn man schon die fatale Entscheidung trifft, mit Mann und Maus in ein Land zu gehen, um es von Terroristen zu befreien, darf man nicht einfach alles stehen und liegen lassen – insbesondere, wenn man 20 Jahre vor Ort ist.
Mehr als hunderttausend Afghan:innen starben in dieser Zeit; tausende ausländische Kräfte sind gefallen (). Zur Erinnerung: Die USA – im Schlepptau die Nato – waren einst angetreten, die Taliban, Schutzpatrone der al-Qaida-Terroristen vom 11. September 2001, zu vertreiben.
Stellen Sie sich vor, die Westalliierten wären nach der Besatzungszeit einfach komplett aus Deutschland wieder abgezogen, und die Nazis wären zurück an die Macht gekommen? Doch die Alliierten blieben Jahrzehnte in ihren Kasernen und hatten ein wachsames Auge auf die deutsche Politik. Sie bauten unsere Wirtschaft mit auf und banden uns in ihre politischen Bündnisse mit ein.
In Afghanistan sind sie einfach raus. Nun stehen die Taliban kurz vor Kabul. Haben fast das ganze Land zurückerobert. Weitere Menschen werden jetzt sterben, gefoltert und vertrieben. Der internationale Terrorismus könnte im Schatten dessen neuen Aufschwung bekommen. Frauen und Mädchen werden ihre dem örtlichen Patriarchat mühsam abgerungenen Ansätze von Recht und Freiheit wieder verlieren.
Milliarden von Wiederaufbau- und Entwicklungs-Dollars wurden in 20 Jahren buchstäblich in den Sand gesetzt. Entweder waren die Anstrengungen vergebens, weil die Taliban beispielsweise Schulen für Mädchen wieder einstampfen werden, oder sie dienen den islamistischen Extremisten für ihre teuflischen Zwecke. Neue Stromversorgungen, Wasserleitungen, Straßen- und sonstige Verkehrsprojekte werden sie jedenfalls zufrieden nutzen. Was für eine Tragödie.
Zudem hat der Wiederaufbau Hoffnungen auf eine Zukunft vor allem bei der jüngeren Bevölkerung genährt. Sie haben auf den Westen gebaut. Ihre Träume werden mit dem Vormarsch der Taliban ebenfalls eingerissen. Zurück bleiben Frust und Enttäuschung – gute Nährböden für unglückselige Entscheidungen im Leben junger Menschen.
Diese Aussichten werden weitere Afghan:innen in die Flucht treiben – innerhalb des Landes und Zentralasiens ebenso wie in Richtung Europa. In der Türkei sind schon zahlreiche Menschen angekommen. Die meisten werden dort nicht bleiben und die Türkei wird sie nicht dulden wollen.
Abschiebungen nach Afghanistan hat Deutschland bereits ausgesetzt. Was auch sonst. Nun müssen wir uns darauf vorbereiten, dass neue Geflüchtete kommen werden. Wir sollten Lektionen eigentlich gelernt haben und die Fehler von 2015/2016 nicht wiederholen, als Hunderttausende aus Syrien flohen, und die EU-Länder völlig überrumpelt waren, obwohl der Krieg dort schon einige Jahre lief.
Weil das Scheitern in Afghanistan das Ergebnis der verkorksten westlichen Außenpolitik ist, steht Deutschland hier mit in der Verantwortung für die Misere.
Es war Altkanzler Gerhard Schröder der Ende 2001 beantragte, die Bundeswehr auch zum Kämpfen nach Afghanistan zu schicken, und Angela Merkel, die die Soldat:innen urplötzlich zurückholte. Es war der deutsche Verteidigungsminister Peter Struck, der 2004 meinte: „Unsere Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Es war ein deutscher Oberst, der den fatalen Luftangriff bei Kunduz 2009 anforderte. Etc.
Jedes Kind lernt, dass es die Folgen seines Tun tragen und die Aufgaben, die es angefangen hat, zu Ende bringen muss.
Es müssen jetzt zwei Wege gegangen werden: Zum einen muss die internationale Staatengemeinschaft gemeinsam handeln und die im Land verbliebenen Anti-Taliban-Kräfte stabilisieren. Zum anderen muss Hilfe für diejenigen vorbereitet und geleistet werden, die nun um ihr Leben bangen.
Letzteres macht eines noch einmal ganz deutlich: Wir brauchen endlich ein Einwanderungs-, Asyl- und Integrationsministerium auf Bundesebene. Eine Einrichtung also, die solche Angelegenheiten mit gebündelten Kräften fachgerecht angeht – um eine Überlastung der Aufnahmebereitschaft in Deutschland zu verhindern und um geflüchtete Menschen zu schützen.
Foto: FH Münster