27. April 2021
Kolumne von Özge
Einhundertdreißig. Das ist die Zahl der Menschen, die vergangene Woche bei dem Versuch, Europa zu erreichen, vor der libyschen Küste ertrunken sind. Die Schuldigen sind bekannt, die Täter, die Profiteure, die Wegschauenden und auch die, die sich mal heimlich und mal offen daran erfreuen. Alles, was es zu sagen gibt, wurde schon hunderte Male gesagt, die hunderten Male, die sich dieses Verbrechen bereits vor unser aller Augen abgespielt hat.
Zu Ehren der einhundertdreißig Toten hielt die Crew der Sea Watch 4 eine Schweigeminute, ein Foto davon wurde auf ihrem Twitteraccount geteilt. Es ist eine Momentaufnahme, die das ganze Elend der Abschottungspolitik auf schmerzhafte Weise verdichtet. Da stehen sie auf ihrem Schiff, diese großartigen Menschen, die ja eigentlich nur das tun, was selbstverständlich sein sollte und damit nicht nur alleingelassen, sondern mit allen Mitteln davon abgehalten werden. Die T-Shirts mit dem Sea-Watch-Symbol kennzeichnen sie als Mitglieder der Rettungsmission und ihren Gesichtern ist die Verzweiflung darüber abzulesen, dieses Mal nicht zur Stelle gewesen zu sein. Die Abwesenheit der Verantwortlichen ist eingraviert in dieses Foto. Während die Täter, mit sich und der Welt zufrieden, in den schicken Regierungsvierteln der europäischen Hauptstädte sitzen, sind es die Rettenden, die die Köpfe senken und trauern. Und diese Trauer wiegt so schwer, dass nur ein Bild sie ausdrücken kann.
Es gibt keinen hoffnungsvollen Abschluss für einen Text über das Sterben im Mittelmeer. Es gibt nur den Schrecken und die Wut und die Rettenden, denen wir eine Last aufbürden, die kein Mensch der Welt schultern kann. Jeder Tag, an dem es uns nicht gelingt, die Festung einzureißen, ist einer zu viel, jeder Tag birgt die Gefahr einer neuen unerträglichen Nachricht. Wir haben einhundertdreißig Tote zu betrauern. Mögen sie niemals vergessen werden.
Foto: Timo Schlüter