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Im Gespräch mit Max über seine Hilfseinsätze in der Ukraine, insbesondere in Odessa
Seit zehn Monaten herrscht Krieg in der Ukraine und es ist längst noch kein Ende in Sicht. Mission Lifeline engagierte sich von Beginn an für die betroffenen Menschen in der Ukraine und unterstützte mit Medikamententransporten, Hilfskonvois und der Versorgung der Menschen vor Ort. Derzeit liegt der Schwerpunkt auf den Hilfsprojekten im Großraum Odessa, wo das Team für die Grundversorgung von Ukrainer:innen sorgt, die aus besetzten Gebieten des Landes fliehen mussten. Max war als Koordinator für humanitäre Hilfe von Anfang an mit dabei. In diesem Interview berichtet er von den Projekten der letzten Monate, neuen Herausforderungen und der aktuellen Lage in Odessa.
Max, du hast dieses Jahr an allen Ukraine-Hilfsprojekten mitgearbeitet. Kannst du kurz einen Überblick geben, welche das waren?
Das ist richtig, ich bin seit Anfang März für Mission Lifeline im Ukraine-Team tätig. Zu Beginn lag der Fokus unserer Arbeit darauf, die Weiterreise von Menschen auf der Flucht von der slowakisch-ukrainischen Grenze nach Deutschland zu organisieren. Zu dem Zeitpunkt gab es die größten Fluchtbewegungen nach Westeuropa. Als diese nachließen, haben wir unseren Fokus geändert und auf Anfragen von Krankenhäusern innerhalb der Ukraine reagiert. Die Versorgungslage in Hinblick auf Medikamente und medizinische Güter war damals sehr schlecht und daher haben wir notwendige Medikamente an ukrainische Kliniken geliefert. Nachdem sich die pharmazeutische Versorgungslage wieder stabilisiert hatte, begannen wir uns auf die Flüchtlingshilfe von Binnenvertriebenen ‒ also Menschen, die innerhalb der Ukraine fliehen müssen ‒ im Großraum Odessa zu konzentrieren.
Du bist vor Kurzem erst wieder von einem Einsatz aus Odessa zurückgekommen. Kannst du ein bisschen genauer erzählen, wie eure Hilfe vor Ort aussieht?
Wir haben vor Ort in Odessa zwei Projekte. Bei dem einen versorgen wir Binnenvertriebene mit Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern ‒ und zwar Binnenvertriebene, die entweder sehr alt sind oder körperliche oder geistige Einschränkungen haben und sich daher schlecht selbst helfen können. Wir arbeiten dafür mit ukrainischen Kolleg:innen aus Odessa zusammen und haben gemeinsam ein kleines Versorgungsnetzwerk aufgebaut. Alle zwei Wochen werden die Menschen mit Nahrungsmittelkisten, die auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten sind, versorgt. Ergänzt werden diese durch Hygieneartikel und spezielle, häufig gesundheitsbedingte Bedarfsmittel. Wir haben aktuell bereits etwa 200 Versorgungsfahrten durchgeführt.
Das zweite Projekt ist ein Evakuierungshub, der sich durch unsere Kooperation mit Partnerorganisationen vor Ort ergeben hat. Dafür haben wir in einem Hotel, welches derzeit aufgrund der Kriegslage nicht ausgelastet ist, einen Flügel gemietet. Dort können Menschen unterkommen, die aus anderen Gebieten evakuiert werden mussten. In dem Rahmen kümmern wir uns auch hier wieder um die Nahrungsmittel- und Hygieneversorgung. Wir geben Menschen, die fliehen mussten, damit eine Art sicheren Hafen. Dort können sie sich erstmal für eine gewisse Zeit, in den meisten Fällen für eine Woche, erholen oder zumindest orientieren und von dort aus in Sicherheit ihre nächsten Schritte planen.
Russland hat Mitte Dezember ‒ in der Nacht zum 10.12.22 ‒ Odessa mit Kampfdrohnen angegriffen, wodurch es zu einem Ausfall der Stromversorgung kam. Nun wird es einige Zeit dauern, bis die Stromversorgung wieder vollständig hergestellt ist. Inwieweit beeinflusst dieser Angriff auch euren Arbeitseinsatz?
Erstmal muss man sagen, dass Drohnen- und Raketen-Angriffe auf Odessa bereits in den letzten Monaten konstant stattgefunden haben. Ein großer Unterschied ist jetzt aber tatsächlich, was du angesprochen hast, der Ausfall der Stromversorgung. Dadurch, dass das Stromnetz innerhalb der Ukraine zusammenhängt, gab es schon in den Wochen zuvor immer mal wieder Stromausfälle, die aber zeitlich begrenzt waren. Ein Stromausfall betrifft immer auch die Wärme- und Wasserversorgung und führt zudem zur Einschränkung der Kommunikationssysteme, wie Mobilfunkempfang und Internet. Auch der Verkehr innerhalb von Odessa gestaltet sich schwierig. Es handelt sich um eine Großstadt und wenn durch einen Blackout die Ampeln ausfallen, ist das natürlich problematisch. Auch unsere Arbeit wird dadurch definitiv erschwert, etwa was die Kommunikation innerhalb des Teams angeht. Jetzt in den dunklen Wintermonaten müssen wir außerdem darauf achten, dass die Powerbanks immer geladen sind und wir unsere Stirnlampen stets griffbereit haben. Trotzdem befinden wir uns noch in einer luxuriösen Position, weil es in unserer Unterkunft beispielsweise einen Generator gab, der uns selbst bei einem kompletten Blackout zweimal am Tag für zwei Stunden mit Strom versorgte. Außerdem ‒ wenn man vor Ort nur im Einsatz ist ‒ weiß man ja, dass die Menschen, die man liebt, zu Hause in Sicherheit sind. Und wir wissen auch, dass es einen Stichtag gibt, an dem wir diese Bedrohungslage wieder verlassen. Daher hat der Angriff unsere Arbeit zwar eingeschränkt, aber es hielt sich im Rahmen.
Nochmal in Hinblick auf die zunehmenden Angriffe ‒ auch auf Odessa. Kann es sein, dass ihr irgendwann auf einen anderen Zufluchtsort ausweichen müsst oder ist Odessa noch relativ sicher für die Menschen, die ihr dort unterbringt?
Im Vergleich zu anderen Gebieten in der Ukraine ist Odessa recht sicher. Das liegt auch daran, dass die Flugabwehr innerhalb der Stadt wirklich gut funktioniert. Wenn sich ein Angriff auf Odessa anbahnt, gibt es einen Fliegeralarm. Dieser wird sowohl über die Sirenen in der Stadt kommuniziert als auch über eine Handy-App. Bei einem Alarm kann man sich in Schutzräume begeben, die meistens markiert sind. In unseren Unterkünften existieren auch solche Schutzräume. Dort sitzt man dann den Fliegeralarm aus und danach wird normal weitergearbeitet. Wir als Organisation haben dabei hohe Sicherheitsstandards, die wir einhalten müssen, damit wir in Odessa tätig bleiben können. Die Bedrohungsperzeption von den Menschen vor Ort ist aber eine ganz andere. In den meisten Fällen sind wir die Einzigen, die sich in die Schutzräume begeben. Was sicherlich auch daher rührt, dass es in vielen anderen Gebieten des Landes viel dramatischer aussieht und Odessa im Vergleich als sicher wahrgenommen wird. Ansonsten versuchen wir natürlich die Nachrichten im Blick zu behalten und stehen im Austausch mit anderen Organisationen vor Ort. Wir versuchen stets die Bedrohungslage einzuschätzen und abzuwägen. Aber aktuell suchen wir nicht nach anderen Standorten. Odessa ist sicher genug, damit wir dort weiter tätig sein können.
Die Menschen lernen sozusagen mit der Bedrohung vor Ort zu leben…
Ja, der Krieg geht ja auch schon lange. Vielleicht mal ein aktuelles Beispiel, um sich das besser vorstellen zu können. Beim letzten Einsatz in Odessa hatten wir etwa fünf bis sechs Fliegeralarme innerhalb einer Woche. Bei meinem vorletzten Einsatz waren es noch zwei bis fünf am Tag. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Menschen vor Ort seit acht Monaten unter diesen Umständen leben, brachte es ein ukrainischer Kollege von mir einmal gut auf den Punkt. Er meinte: „Wenn die Menschen hier bei jedem Alarm in den Keller gehen würden, dann kämen wir doch zu nichts mehr!“. Es entwickelt sich durchaus eine gewisse Gewöhnung und die muss man lernen einzuschätzen. Das ist auch für unsere Teamführung wichtig. Wir dürfen nicht abstumpfen, sondern müssen die Bedrohungslage weiterhin so wahrnehmen, wie wir es in unseren Sicherheitsbriefings gelernt haben. Dann geht man eben in den Keller ‒ und zwar bei jedem Alarm.
Du bist in den letzten Monaten immer wieder im Einsatz in der Ukraine gewesen. Wie hat sich die Situation im Land verändert?
Das ist eine komplexe Frage und die Eindrücke, die ich mit Mission Lifeline sammeln durfte, sind natürlich nur ein kleiner Ausschnitt. Die Witterungsbedingungen spielen auf jeden Fall eine große Rolle. Aktuell ist die Lage, soweit ich sie beurteilen kann, insofern dramatischer geworden, da die Wärme-, Wasser-, und Stromversorgung regelmäßig einbricht. Außerdem schießen die Mietpreise und die Preise allgemein durch die Decke – insbesondere für Sachen, die jetzt gerade gebraucht werden. Beispielsweise warme Bettdecken, Medikamente oder Batterien für Taschenlampen. Jegliche Art von Stromspeicher ist in der Stadt fast nicht mehr zu bekommen. Zudem haben die Menschen kaum Einkommen und da der Krieg nun schon so lange andauert, sind viele Ersparnisse aufgebraucht. Hinzu kommt, dass es in den Wintermonaten schneller dunkel wird und dies beispielsweise die Betreuung von Kindern oder kranken Menschen erschwert. Wenn das Licht in der Wohnung ausfällt, man aber keine Batterien für Taschenlampen mehr hat und mit einem kleinen Handylicht die Betreuung realisieren muss, ist das natürlich schwierig. Auch solche einfachen Sachen wie Schiebetüren in Supermärkten, Kassensysteme oder Geld abheben funktionieren nicht mehr. Ein Blackout ist auf vielen Ebenen problematisch. Die Menschen vor Ort sind in einer prekären Lage ‒ und so wie es aussieht, wird sich diese auf kurze Sicht auch nicht verbessern.
Du sagst es. Es sieht leider nicht so aus, als ginge der Krieg bald zu Ende ‒ im Gegenteil. Habt ihr schon Pläne für eure Einsätze im kommenden Jahr?
Die beiden Projekte in Odessa sind definitiv langfristig geplant. Genaue Zeiträume sind zwar nicht abgesteckt, aber wir gehen davon aus, dass noch für mehrere Monate Hilfe geleistet werden muss. Das ist ungewöhnlich für Nothilfe, die ja eigentlich eher punktuell und schnell stattfindet, um das größte Leid von Menschen fernzuhalten. Hierbei handelt es sich um ein Projekt, das Nothilfe im zeitlich größeren Rahmen zu den Menschen bringt.
Was können Menschen hierzulande tun, um euch bei eurem Einsatz und damit auch den Menschen in der Ukraine zu helfen?
Da wir komplett durch Spendenmittel finanziert sind, ist Geld spenden ein sehr einfacher Weg sich einzubringen. Die erwähnten Preisanstiege bedeuten auch für uns, dass ein Budget, mit dem wir vor zwei Monaten noch 200 Menschen versorgen konnten, nun nur noch für einen Bruchteil reicht. Außerdem gibt es unsere Ortsgruppen von Mission Lifeline, in denen man sich engagieren kann. Sie leisten fantastische Öffentlichkeitsarbeit, bringen sich aber auch auf verschiedene Weise anderweitig kurzfristig ein – beispielsweise, wenn für einen Einsatz etwas gepackt werden muss. Wer sich im größeren Rahmen vor Ort engagieren möchte, dem oder der kann ich den Crew-Fragebogen auf unserer Webseite ans Herz legen. Allerdings muss es bei unseren Einsätzen häufig schnell gehen, was eine hohe zeitliche Flexibilität voraussetzt. Außerdem kann es sein, dass man Hilfe anbietet und es derzeit keine Situation gibt, die diese Hilfe erforderlich macht. Für unser Crewing ist es stets ein großes Puzzle, die richtigen Menschen mit den richtigen Fähigkeiten aufs richtige Team zu verteilen. Wenn man sich im größeren Rahmen einbringen möchte, ist es daher hilfreich mit einer gewissen Entspanntheit an die Sache herangehen.
Ich gebe meinen Gesprächspartner:innen am Ende immer die Möglichkeit noch etwas zu ergänzen. Was liegt dir noch auf dem Herzen?
Man muss sich nur mal folgende Frage stellen: was wäre, wenn man selbst in einer solchen Situation wäre? In einer Situation, in der man alles verliert, das Land verlassen muss oder Angehörige verliert. Wenn man sich in diese Situation hineinversetzt ‒ was würde man sich dann wünschen? Also, wenn mir so etwas passieren würde, dann würde ich mich freuen, wenn andere Menschen Hilfe leisten würden. Und ich glaube, das ist auch die Motivation – und da spreche ich vermutlich für das gesamte Team – warum wir uns einbringen.
Fotos: Johannes Räbel