20. Oktober 2020
Kolumne von Hatice Akyün
Um mich herum ist es so laut, dass es mir schwerfällt, meine eigenen Gedanken zu hören. Ob in den Sozialen Medien, im Supermarkt oder in der Bahn, der verbale Umgang ist so unerträglich, dass ich mich am liebsten in eine nie enden wollende seelische Quarantäne begeben möchte. Wenn wir als Kinder Unsinn gemacht hatten, sagte meine Mutter: „Balla, Balla Kopp kaputt“, und fügte am Ende noch ein rhetorisches Fragezeichen hinzu. Natürlich hat sie uns das nicht gefragt, es war eine Zustandsbeschreibung.
Es gibt in diesen Zeiten mindestens zehn Situationen am Tag, an denen ich laut „Balla, Balla Kopp kaputt“, rufen möchte. Ich bin erschöpft von den künstlichen Debatten, die in immer kürzeren Abständen mit Falschbehauptungen oder Provokationen beginnen, von Sympathisanten aufgegriffen und von allen anderen, weil man es ja jetzt auch machen muss, weitergedreht werden. Ich bin erschöpft davon, mit meinem „aber“ ständig hinterherzuhecheln und Selbstverständliches zu formulieren, ich bin erschöpft davon, das System dieses Mechanismus zwar zu erkennen, aber nichts dagegen tun zu können. Das letzte Mal hatte ich dieses Gefühl der Erschöpfung und Resignation während der Sarrazin-Debatte, bei der ich am Ende nach Istanbul abgehauen bin. Das geht jetzt nicht mehr, ich komme hier nicht weg, ich will hier nicht weg. Aber ich habe das große Bedürfnis, mich diesem Irrsinn für eine Weile zu entziehen, um die Koordinaten meines inneren Kompasses wiedereinzurichten.
Im Türkischen sagt man, denke hundertmal, sprich einmal. Wie kann man es also schaffen, sich Diskursen zu entziehen, ohne abzustumpfen, ohne sein Interesse am Weltgeschehen zu verlieren? Als politischer Mensch brauche ich die Auseinandersetzung, als Demokratin ist es meine Pflicht, das Terrain nicht den „Lauten“ zu überlassen. Denn Rückzug bedeutet, der Minderheit die Deutungshoheit zu überlassen. Gerade in schwierigen Zeiten ist es für eine Demokratie wichtiger denn je, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wenn Linien des Sagbaren verwischt werden.
Wir leben schon längst in einer Zeit der Desinformation. In einer weltweiten Krise sind die Sozialen Medien zu einem Schlüsselfaktor geworden, falsche und manipulative Nachrichten zu verbreiten. Als Journalistin, vor allem aber als Demokratin, möchte ich aus dieser Spirale der Desinformation ausbrechen, stattdessen zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den Sozialen Medien zurückkehren. In Krisenzeiten übermitteln sie auch Maßnahmen, die lebensrettend sein können. Um diese Krise zu überstehen, müssen wir uns umso mehr unserer Verantwortung bewusst werden.
Ich muss gestehen, dass es auch mir manchmal schwerfällt, in der Vielzahl von Meldungen, Nachrichten und Sensationen den Überblick zu behalten und mich auf Themen zu konzentrieren, die mehr sind als Eintagsfliegen, die den Dingen auf den Grund gehen. Denn je ungenauer wir sind, desto großer wirkt sich diese auf die Angst der Menschen aus. In vielen Bereichen gibt es eine fatale Schieflage des Diskurses, in der Meinungen mit Beleidigungen und Drohungen gleichgesetzt werden. Das Internet ist eine gigantische, technische Plattform, die jede Botschaft in gleicher Geschwindigkeit transportiert. Sie bietet darüber hinaus noch einen entscheidenden Nutzen für viele: Eine vordergründige Anonymität. Man erzeugt virtuelle Nähe, bei persönlicher Distanz. Denn jeder, der diese Möglichkeiten nutzt, ist auch greifbar, für alles und jeden. Verschwörungstheorien, Anfeindungen und Drohungen hat es auch früher schon gegeben, aber lange nicht so massiv wie heute. Wie kommt es also, dass so viele Menschen trotzdem glauben, sie dürften ihre Meinung nicht sagen? Vielleicht liegt es am Widerspruch. Vielleicht, weil sie in ihrem Freundeskreis nicht mehr über bestimmte Themen sprechen können, weil man die Reaktionen scheut. Es ist etwas völlig anderes, wenn einem die Freundschaft wegen politischer Überzeugungen gekündigt wird oder man für seine Meinung ins Gefängnis kommt.
Ich glaube, wir müssen einen Weg finden, die Debatte wieder auf die wichtigen Themen wie Rassismus, Nationalismus und Misogynie zu lenken, statt unsere Energie an die künstlich erschaffene Empörung zu verschwenden. Demokratie ist kein Schönheitswettbewerb. Sie ist solides Handwerk und ganz viel Haltung.
Foto: Oliver Mark