30. Dezember 2021
Januar 2021. Feiertage im Lockdown liegen hinter uns, viele Lockdowntage vor uns, noch sind wir alle ungeimpft. Die RISE ABOVE liegt in der Werft, unendlich viel Arbeit steht noch an. Wir finden einen Weg, dank strenger Hygieneregeln und vieler Tests. In den kommenden Wochen arbeitet die Werftcrew, unterstützt vom Backoffice, kontinuierlich weiter. Im Frühjahr verlassen wir die Werft bei Glückstadt und wagen die Testfahrt nach Helgoland. Sie bringt Ernüchterung: Zu viel ist noch zu tun, das Schiff ist nicht einsatzbereit. Die Werftcrew, wir alle müssen diesen Rückschlag verdauen. Um Kraft zu schöpfen, gehen wir in eine kurze Werftpause und legen danach wieder richtig los. Über den Sommer gelingt es, alle Baustellen abzuarbeiten. Unvergessen die Suche nach Motorersatzteilen für die betagte Maschine, die Beschaffung von Ersatzlagerschalen ein Abenteuer. Dann die große Erleichterung, als uns im Backoffice das Audiofile mit dem Motorensound erreicht. Musik ist gar nichts dagegen!
Parallel arbeiten SAR-OPs- und Crewing-Abteilungen an der Vorbereitung für die erste Mission. Die geringe Größe des Schiffes und damit der begrenzte Platz für die Crew bedeuten, jede Position mit erfahrenen Fachleuten zu besetzen, mit Männern und Frauen, die mehrere Funktionen an Bord gleichzeitig ausfüllen können. Handbücher und Regelwerke werden geschrieben, passgenau für die Gegebenheiten an Bord. Einsatzkonzepte werden diskutiert und festgehalten. Das Bordhospital wird fertig ausgestattet, Covid19-Regeln aufgestellt, Tests und Ausrüstung besorgt. Im Büro stapeln sich Decken, Kleidung, Hygieneartikel und Notfallnahrung für die erwarteten Gäste. All das geht Ende August nach Wilhelmshaven aufs Schiff. Die Crew für die Überführung und unser Kapitän sind ebenfalls angereist und bereiten sich auf die Überfahrt ins Mittelmeer vor. Im September ist es dann endlich soweit, die RISE ABOVE legt ab.
Dort angekommen, in Burriana/Spanien, nutzen wir den Oktober für eine weitere kurze Werftphase. Mängel, die auf der Überfahrt festgestellt wurden, gilt es zu beheben. Wir werden fantastisch unterstützt von Menschen anderer Seenotrettungs-NGOs, die ebenfalls in Burriana im Hafen liegen. Mitte des Monats reist die Crew für die erste Mission an, es folgen umfangreiche Trainings, Briefings – und die Vorfreude, dass es jetzt endlich losgehen kann.
Zuhause im Dresdner Büro heißt das Bereitschaft rund um die Uhr, alle sind beteiligt, alle schlagen sich die Nächte um die Ohren und verfolgen die Route des Schiffes im Minutentakt. Probleme, die vom Schiff gemeldet werden, sollen schnell und kompetent gelöst, die Besatzung nicht mit Rückfragen genervt werden. Parallel arbeitet das Team der Öffentlichkeitsarbeit genauso im 24/7 – Modus. Alle verfolgen, wie die RISE ABOVE gemeinsam mit der SEA EYE 4 Suchmuster in der SAR-Zone fährt, als es plötzlich Schlag auf Schlag geht. Mehrere Notfälle werden gemeldet, beim ersten kommen wir kaum eine Viertelstunde zu spät – die sogenannte libysche Küstenwache war schneller. Ein Tiefschlag. Die Crew kann nicht darüber nachdenken, denn sofort folgen weitere Notrufe. In den kommenden langen Stunden retten die RISE ABOVE gemeinsam mit der SEA EYE 4 847 Menschen aus Seenot. Unser kleines Schiff ist schnell und eilt stets voraus zum Einsatzort, unsere RHIB-Crew stabilisiert die Lage, beruhigt und sichert die Menschen bis zum Eintreffen des größeren Schiffes. Im letzten Einsatz war die Crew 12h lang im RHIB, bei Wind, Wetter, Seegang, bis die Menschen auf die Sea Eye4 geborgen werden konnten. 847 Menschen, die jetzt hoffentlich die Chance auf ein würdevolles, sicheres Leben bekommen werden. Die RISE ABOVE begleitet das größere Schiff und die Menschen noch bis zum sicheren Hafen in Trapani. Die Ankunft dort, die Freude der geretteten Menschen werden wir alle nie vergessen.
Wenige Wochen später starten wir von Trapani unsere zweite Mission. Wieder hat in der Zwischenzeit eine Werftcrew das Schiff auf Vordermann gebracht, Reparaturen erledigt, die Lösung für das Launchen des RHIBS umgearbeitet, damit es sicherer und reibungsloser funktionieren kann. Wieder haben SAR-Ops und Crewing Einsatzkonzepte besprochen und Menschen gefunden, die als Crew bereitstehen, wieder fanden umfangreiche Trainings und Briefings statt, bevor es dann Mitte Dezember losgehen konnte. Und wieder war das gesamte Backoffice- und ÖA-Team in Dauerbereitschaft. In dieser Mission kam der erste Notfalleinsatz direkt bei der Ankunft im Einsatzgebiet. 66 Menschen in Seenot, keine Chance, auf ein größeres Schiff zu warten. Über Stunden keine Reaktion der Seenotleitstellen. Dann entschloss sich der Kapitän, die Menschen an Bord zu nehmen, bevor deren Boot kentern würde. Wir hatten nun, an einem Donnerstagabend, 66 Menschen an Bord, darunter 13 Minderjährige. Es folgten nicht enden wollende Stunden, Tage voller Ungewissheit, wann und wo wir einen Port of Safety zugewiesen bekommen würden. Malta: Keine Reaktion. Italien: Nicht zuständig. Bremen: Nicht zuständig. Endlose Mail- und Telefonkontaktversuche, natürlich auch in die Politik und die verantwortlichen Ministerien hinein.
Währenddessen wurde das Wetter immer schlechter, Sturm zog auf, das Schiff kreuzte vor der sizilianischen Küste, auf die rettende Nachricht wartend, die nicht kommen wollte. Erst am Sonntag, am 3. Advent, durften wir in Porto Empedocle einlaufen, die Menschen am nächsten Tag von Bord gehen. Wir wünschen Ihnen, dass sich all ihre Hoffnungen auf ein sicheres Leben erfüllen mögen.
Die harten Einsätze sind nicht nur für die Crews kräftezehrend, auch das Schiff braucht Ruhe und Zuwendung – die wird es in den kommenden Monaten bekommen, dank vieler fleißiger Hände. Danach, im Frühjahr, werden wir bereit sein, wieder Menschen aus Seenot zu retten. Jedes Schiff, jede helfende Hand zählt – weil jeden Tag Menschen auf dieser tödlichen Route ihr Leben riskieren.
Ohne die vielen Tausend Spender*innen und Spender, die uns treu zur Seite standen und stehen, könnten wir unsere Arbeit nicht machen. Sie alle sind über ihren Beitrag genauso Teil der MISSION LIFELINE Crew wie wir alle.
Ob am Steuer, im RHIB, am Laptop, an der Maschine, am Telefon, mit Schraubenzieher und Phasenprüfer, hinter der Kamera, bei Infoständen und Demos – wir alle sind LIFELINE.
2022 wird wieder eine Handbreit Wasser unterm Kiel sein. Das versprechen wir.
Fotos: Hermine Poschman, Danilo Campailla, Clemens Ledwa