11. August 2020
Kolumne von Lamya Kaddor
„Cancel Culture“ heißt ein neues Schlagwort. Zumeist benutzen es jene Menschen, die darüber klagen, dass sie erzkonservative, diskriminierende und oft rassistische Äußerungen nicht mehr widerspruchslos verbreiten können und teilweise dafür boykottiert und bedroht werden. Diese „Cancel Culture“ ist ein Problem… Aber für wen genau?
„Ich bin auf Twitter nur anonymisiert unterwegs“, schrieb mir dieser Tage eine Bekannte: „Hier in Sachsen ist man durch ein Engagement in der humanitären Flüchtlingshilfe ziemlich gefährdet.“
In Deutschland werden Menschen wie sie wegen positiver Einstellung zu Geflüchteten abgekanzelt – latent und subtil durch Prominente, evident und aggressiv durch Anonyme. Virtuell wie real: Meine Bekannte, die auch von ihrem Demonstrationsrecht gegen Pegida Gebrauch macht, berichtete weiter: „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie die Leute da reagieren. Wie entfesselt, es ist ein Mob.“
In was für einem Land leben wir, wo der Einsatz für Menschenleben Mut erfordert? Wo selbst zutiefst menschliches Verhalten, Ängste vor Bedrohungen auslöst? Das weckt Erinnerungen an die dunkelsten Zeiten in Deutschland.
Wenn jemand Gutes tun will, und sich nicht mehr traut, mit seinem Namen öffentlich dafür einzustehen, dann ist das ein Ausweis des Versagens der gesamten Gesellschaft. Unserem modernen und wunderbaren Land ist das unwürdig. Es bringt die Grundfesten der deutschen Demokratie ins Wanken.
Gewiss ist es problematisch, wenn ein Dieter Nuhr oder eine Lisa Eckhart abgekanzelt werden. Aber sie und andere Prominente haben Zugang zur Öffentlichkeit. Sie können sich wehren und finden schnell Fürsprecher in Medien und Parteien. Journalist*innen und Politiker*innen greifen ihre Fälle begierig auf, viele skandalisieren sie.
Privatleute von Görlitz bis Aachen haben diesen Vorteil nicht. Wenn sie abgekanzelt, boykottiert und bedroht werden, interessiert sich öffentlich kaum jemand dafür. Ihre Fälle werden nicht thematisiert, schon gar nicht skandalisiert.
Deswegen ist es wichtig, diesen Menschen Öffentlichkeit zu verschaffen. So kann es nämlich in Deutschland nicht weitergehen. Gerade wer sich für die Not der Schwächsten einsetzt, muss sich doch in einer Demokratie ohne Angst äußern können. Es ist unser aller Aufgabe, das zu gewährleisten. Wenn also künftig von „Cancel Culture“, mangelnder Meinungsfreiheit oder gar „Zensur“ die Rede ist, sollte man diesen Aspekt nicht vergessen.
Foto: FH Münster