Montag, 11. Mai 2020
Seit Beginn des Lockdowns in Griechenland am 13. März werden alle Neuankömmlinge auf Lesbos an verschiedenen Orten im Norden der Insel, meist direkt an ihrem Landeplatz, unter Quarantäne gestellt – einige davon mehr als vierzig Tage lang. Unter unmenschlichen Bedingungen und abseits der Öffentlichkeit werden sie ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt.
Dr. Diego*, der im Camp Moria arbeitet, hat drei dieser Standorte zweimal besucht. Im Folgenden beschreibt er die dortige Situation und die katastrophalen Bedingungen für die betroffenen Flüchtlinge, wie er sie erlebt hat:
Wir zählten sechsunddreißig Insassen im Camp Klio, zweiunddreißig in Agios Stefanos, und das größte Lager war in Petra, wo etwa fünfzig Leute untergebracht waren. In keinem der Lager gab es sanitäre Einrichtungen – keine Duschen, keine Toiletten. In Klio und Agios Stefanos standen allen gemeinsam nur zwei sechzehn Quadratmeter große Zelte zur Verfügung. Zur medizinischen Versorgung waren die Menschen darauf angewiesen, dass die griechische Polizei einen Krankenwagen rief. Mehrere Personen wurden ins Krankenhaus gebracht und dann ohne angemessene medizinische Versorgung wieder zurück ins Lager geschickt. Einmal am Tag wurden Lebensmittel gebracht, kalt und nicht frisch, und pro Person gab es täglich eineinhalb Liter Wasser zum Trinken und Waschen. Diese Bedingungen grenzen an Folter.
Camp Klio // Das Lager (in) Klio befand sich direkt neben einem Sumpf. Einige Medien berichteten, dass die Menschen dort in einer Kapelle untergebracht seien, aber das stimmt nicht: Sie waren neben der Kapelle untergebracht, buchstäblich neben dem Sumpf. Das Lager befand sich hoch oben in den Hügeln. Von Polizeiautos geleitet mussten die Menschen, unter denen sich auch chronisch Kranke befanden, zu Fuß den Hügel erklimmen – ein zweistündiger Fußmarsch. Es gab Wassermangel und die Menschen benutzten Wasser aus einem nahe gelegenen Wasserschlauch, der zu einem Feld führte – nach einigen Tagen wurde er abgestellt. Das Lager in Petra befand sich im Dorf, sodass die Menschen dort nicht, wie an den anderen Orten, auf einem Feld aufs Klo gehen konnten. Zehn Meter entfernt befand sich ein Gebäude mit einer öffentlichen Toilette, aber sie war geschlossen. Agio Stefanos war das kleinste der drei Lager und befand sich auf einem Feld irgendwo im Nirgendwo // mitten in der Landschaft.
Ich und die anderen Mediziner, die die Lager besuchten, waren nicht von den Behörden angefordert worden. Wir waren selbstorganisiert und hatten beim ersten Mal keine Ahnung, was wir vorfinden würden. Seitens der Polizei begegnete uns kaum Widerstand, weil wir als Mediziner kamen, was die Situation erleichtert. Aber andere, die nicht als Sanitäter kamen, wurden von der Polizei mit Geldstrafen belegt. Ich habe dort keinerlei offizielle Organisationen gesehen außer dem UNHCR, der aber nur Zelte und Decken zur Verfügung stellte. Einmal trafen wir zwei Leute, die behaupteten, vom örtlichen Krankenhaus zu kommen und die Lager einmal pro Woche zu besuchen. Sie gaben jedoch keine Mittel zur Dauermedikation an die Menschen aus, die sie benötigten. Einige Menschen, die ich in den Lagern getroffen habe, sind chronisch // permanent ((structurally)) auf Medizin angewiesen, aber sie wurde ihnen vorenthalten.
Mehrere Personen wurden ins Krankenhaus gebracht. Ein Mann, der wegen einer bei einem Bombenanschlag erlittenen Hirnverletzung unter epileptischen Anfällen leidet, bekam dort ein EEG, einen Behandlungsplan und die Empfehlung zur Durchführung eines CT-Scans – aber als er um einen Termin bat, konnte man ihm keinen geben. In Petra war ein vierzehnjähriges Mädchen durch schweres Erbrechen und Durchfall dehydriert. Am Tag bevor ich sie traf war sie in das Mitilini-Krankenhaus gebracht und ohne Medikamente wieder entlassen worden. Das Essen im Lager war für ihren Magen völlig ungeeignet, sodass sie tagelang nicht richtig gegessen hatte.
Aufgrund der Aussetzung des Asylverfahrens, die als Maßnahme gegen Corona erfolgte, werden diese Menschen nicht als Asylsuchende betrachtet und haben somit kein Recht, die Versorgung des öffentlichen Gesundheitssystems in Anspruch zu nehmen. Viele, die ins Krankenhaus kamen, wurden ohne die richtigen Medikamente wieder zurückgeschickt.
Die griechischen Behörden müssen die Verantwortung übernehmen für das, was hier passiert ist: Selbst die humanen und sicherheitstechnischen Mindeststandards wurden einen Monat lang nicht erfüllt und die Menschen mussten wie Tiere leben.
Ohne jegliche Benachrichtigung weder der Menschen in Quarantäne noch der humanitären Organisationen, die wiederholt mehr Klarheit über die Lebensbedingungen im Norden forderten, wurden die nach dem 13. März eingetroffenen 130 Personen mitten in der Nacht zum 27. April in das Lager Moria verlegt. Sie sind nun als Asylsuchende registriert.
In der Zwischenzeit sind zwei neue Gruppen an der Nordküste von Lesbos eingetroffen. Das erste Boot landete am sechsten Mai am Strand von Kalo Limani. Nachdem sie eine Nacht unter freiem Himmel geschlafen hatten, wurden sie auf ein Areal gebracht, das 2015 als Transitlager genutzt wurde. Bis heute haben keine unabhängigen Ärzte oder Sanitäter Zugang zu dieser Einrichtung erhalten. Das zweite Dingi landete am zehnten Mai und die Menschen werden derzeit noch an ihrem Ankunftsort am Strand festgehalten.
Moria ist eine Schande und es ist unglaublich, dass wir diesen Grad der Entmenschlichung jetzt überschritten haben. Diese Orte sind nicht nur Quarantänezonen, es sind Haftanstalten. Sie dienen als Warnung und senden eine klare Botschaft an alle, die den Weg nach Europa in Erwägung ziehen: Sie sind hier nicht willkommen.
+++ UPDATE +++
Inzwischen sind alle Neuankömmlinge in die neue Quarantänestation in Megala Therma verlegt worden – ein altes Militärlager an einer Schotterstraße zwischen Eftalou und Skala Sikamineas. Sie werden nicht mehr am Strand festgehalten. #Moria #Savethem
*Namen zum Schutz der Privatsphäre geändert
**Die griechischen Asyl-Registrierungs-Prozesse wurden aufgrund der Ereignisse an der türkisch-griechischen Grenze Ende Februar/Anfang März ausgesetzt
Anmerkung: Aufgrund verschiedener aktueller Restriktionen hatte Mission Lifeline keine Möglichkeit, bestimmte Angaben in diesem Report zu verifizieren, sieht aber die Quelle als seriös und zuverlässig an.