Himmelsfahrts-Kommando im zentralen Mittelmeer

 


Himmelsfahrts-Kommando im zentralen Mittelmeer 

9. September 2019

Claus-Peter Reisch, Skipper einer Segelyacht und Kapitän des Rettungsschiffes LIFELINE, berichtet von seinen Rettungseinsätzen vor der libyschen Küste   

Interview mit Claus-Peter Reisch von Udo Hinnerkopf        

Als er noch berufstätig war, träumte er von großen Reisen auf dem Meer. Vom Ankern in einsamen Buchten, von Sonnenuntergängen auf dem Vorschiff mit einem Glas Rotwein in der Hand und von Begegnungen mit Gleichgesinnten, die ebenfalls mit ihren Booten unterwegs waren. Später dann, in Ruhestand, segelte er von Sardinien in die Inselwelt der Ägäis und fand alles so vor, wie er es sich erträumt hatte.

„Doch dann“, sagte er am Telefon „wurden wir zum ersten Mal mit der Wirklichkeit konfrontiert. In einem Hafen an der kalabrischen Küste sahen wir in der hintersten Verrottungsecke die brüchigen Wracks der Flüchtlingsboote, ehemalige libysche Fischereifahrzeuge – noch die Crème de la Crème im Vergleich zu dem, was uns heute an der libyschen Küste begegnet. Immerhin hochseetauglich gebaut, übersät mit dem Zeug, was Menschen nach ihrer Ankunft achtlos liegen gelassen hatten: leere Wasserflaschen, ausgelatschte Flipflops, zerknülltes Papier und Rettungswesten. 

„Ab dann fragten wir uns“, sagte Claus-Peter Reisch, „was wir machen würden, wenn wir so einem seeuntauglichen Boot mit hundert und mehr Menschen irgendwo auf dem Meer begegnen würden?“ 

Ich spürte durchs Telefon wie es ihn schüttelte. „Auf der First 42s7 hatten wir maximal Platz für zehn, wenn es hochkam fünfzehn Menschen“, berichtete er. Was wäre dann mit den anderen 80 oder 100 auf so einem elenden Schlauchboot?, fragte er sich. ,,Für die könnten wir nichts tun, außer einen Notruf abzusetzen.“ 

Im Hintergrund klingelte ein Telefon, „Sorry“, sagte er, einen Augenblick.“ Unser Gespräch wurde unterbrochen. „Entschuldigung, laufend rufen Redaktionen an und wollen mit mir sprechen.“ Wir verabredeten uns zu einem längeren, hoffentlich ungestörten Gespräch über WhatsApp am Sonntagvormittag. Das war dann zufällig der Tag, an dem die italienischen Behörden dem deutschen Rettungsschiff Alan Kurdi und der italienischen 18-Meteryacht Alex, ebenfalls mit geretteten Flüchtlingen, das Anlegen in Lampedusa verwehrten.

Im zweiten Anlauf kam das Gespräch zustande. Es sei eine niederschmetternde Nachricht, die er als erstes übermitteln müsse: „Gerade wurde gemeldet, dass vor Tunesien 86 Flüchtlinge ertrunken sind. Nur vier konnten gerettet werden. An der Küste werden Leichen angeschwemmt. Man könnte jetzt zynisch sein und sagen“, rief er, „leider nicht in Italien an Salvinis Badestrand. Und leider auch nicht in Brüssel. Sie wissen, was ich damit sagen will? Dieses Wegschauen ist einfach katastrophal. Jeder Mensch, der auf dem Meer stirbt, ist einer zu viel.“ 

Claus-Peter Reisch, 57, kommt aus Oberbayern und ist bekennender Frührentner, nachdem er sein gut gehendes Geschäft 2008 verkauft hatte. „Ich bin eher bürgerlich, kein chaotischer Aussteiger, finanziell unabhängig.“ Als gelernter KfZ-Mechaniker und selbstständiger Kaufmann hatte er sein Sportseeschiffer-Patent schon viele Jahre in der Tasche, als er sich nach dem Erlebnis in dem kalabrischen Hafen bei der Sea Eye Rettungsorganisation in Regensburg meldete. Nach gründlicher Vorbereitung konnte er schon bald als Kapitän mit der Sea Eye zu insgesamt vier Rettungsfahrten vor der libyschen Küste aufbrechen. Er rettete dabei viele Menschen aus dem meist stark bewegten Meer. Seine fünfte und sechste Fahrt startete er mit einer 18-köpfigen Crew im Juni 2018 auf der LIFELINE, dem 32-Meter-Rettungsschiff der Organisation MISSION LIFELINE aus Dresden. Das ehemalige schottische Forschungsschiff war ursprünglich nicht für die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot ausgerüstet, wurde dann aber umgebaut und konnte 50 Menschen plus Besatzung aufnehmen.

International bekannt wurden Reisch und die LIFELINE im Juni 2018, als das Schiff tagelang einen Hafen suchte, ähnlich wie die Sea-Watch mit Kapitänin Carola Rackete in diesem Jahr. Aber kein Mittelmeerland war bereit, die 234 gerade von zwei sinkenden Schlauchbooten übernommenen Flüchtlinge an Land zu lassen. „Unser Innenminister drohte uns damals“, schimpfte Reisch, „er werde uns zur Rechenschaft ziehen. Die in Malta sollten uns ruhig festnehmen. Heute redet er genau anders herum und er macht den Eindruck, als ob er uns helfen wolle – hahaha.“  

„Es gab noch ein drittes Schlauchboot, das sie auf ihrem Radar hatten?“, fragte ich.

„Das dritte, zur selben Zeit im selben Gebiet umherirrende Schlauchboot haben wir leider nicht mehr gefunden. Die libysche Küstenwache hatte unsere Rettungsaktion mit den ersten beiden Booten behindert und wollte unbedingt die bereits Geretteten übernehmen und zurück nach Tripolis bringen, aber nicht bei der Suche nach dem dritten Boot helfen. Die Typen haben uns zu lange aufgehalten und bedroht – für das dritte Boot kamen wir dann einfach zu spät.“

„Das war von Anfang an ein Grenzerlebnis?“

„Genau. Mit der Besatzung waren jetzt über 250 Menschen an Bord. Wir kreuzten auf dem Meer westlich von Malta und durften nirgendwo anlegen. Von der Seenotrettungsleitstelle (MRCC) in Rom, mit der wir bei früheren Einsätzen sehr gut zusammengearbeitet hatten und die wir als freundliche, höfliche und hilfsbereite Menschen erlebt hatten, bekamen wir jetzt Salvinis Dekret entgegengeschleudert: No entrance!“ 

 „Was sollten wir machen mit so vielen Menschen an Deck? In der Bordküche wurden 500 Essen am Tag gekocht: Morgens 150 Liter stark gesüßter Tee, dazu Energieriegel mit 400 Kalorien pro Stück. Mittags gab es Couscous mit Gemüse und abends Gemüse mit Reis – alles aus Gastronomiedosen, die wir gebunkert hatten. Der Reis wurde vorgekocht und in geschlossenen Behältern auf den Zylinderköpfen der Hauptmaschinen warm gehalten.“ 

Er lachte leise: „Wir hatten nur zu wenig Zucker dabei. Beim nächsten Mal nehm ich 200 Kilo mit. Die Menschen wiegen teilweise nur noch 45kg, die brauchen vor allem Energie.“ 

Auf dem Schiff gibt es ein kleines Krankenhaus, erzählte er weiter, mit drei Behandlungsplätzen, sogar Beatmungsgeräte und Ultraschall sind an Bord – „Nur operieren konnten wir nicht“, kicherte Reisch. „Außerdem hatten wir eine Meerwasserentsalzungsanlage, die 220 Liter pro Stunde aufbereitete und 14 Tonnen Wasser in den Tanks. 

„Wasser ist das Wichtigste an Bord“, sagte der erfahrene Skipper. „Jeder bekam als erstes eine Plastikflasche mit Wasser, dazu wurde ihm erklärt, die Flasche musst du behalten und kannst sie jederzeit an zwei Wasserhähnen, einer auf dem Vorschiff und einer auf dem Achterschiff, nachfüllen. Wir hatten 1.500 Flaschen dabei.“ Manche schütteten dann erstmal zwei bis drei Liter Wasser in sich rein und berichteten, sie hätten seit drei Jahren zum ersten Mal keinen Durst mehr. In den KZ-ähnlichen Camps in Libyen, gebe es viel zu wenig Wasser zum Trinken.

„Da gibt es Seefahrts-Experten“, stöhnte Reisch, „die keine Ahnung von Seefahrt haben. Neulich schwadronierte einer in einer Fernsehsendung, die Rettungsschiffe der deutschen NGO’s könnten doch nach Bremerhaven fahren und ihre Geretteten dort abliefern.“

 „Was für ein Quatsch!“, sagte Reisch. „Was für ein Schwachsinn von ahnungslosen Idioten: Mit den traumatisierten Menschen, die ja alle an Deck sitzen und liegen, wo bei Gegenwind ständig Gischt über sie weht, weil unter Deck kein Platz ist, gegen den teilweise extremen Seegang anzudampfen, wie soll das gehen?“ Ich hörte wie er mit der Hand auf seinen Tisch schlug. „Es gibt drei Sturmgebiete, gegen die wir andampfen müssten: Den Portugiesischen Norder, der an der Küste Portugals herunterfegt und gegen den das Schiff aufkreuzen müsste. Die stürmische Biskaya, die wir direttissima, also weit weg von Land überqueren müssten, ohne Möglichkeit Kranke abzubergen. Und drittens der ruppige Ärmelkanal, von der rauen Nordsee ganz zu schweigen. Wie würden diese Menschen, von Salzgischt übersprüht, in Bremerhaven ankommen? Unvorstellbar, so ein Geschwätz!“

Ich fragte ihn, ob er kein Muffensausen gehabt habe, als er von der relativ kleinen Segelyacht auf den großen Stahlkoloss LIFELINE umgestiegen sei?

„Na ja“, sagte er, „es war ja meine sechste Mission, ich hatte schon zwei andere ähnliche, nicht ganz so große Schiffe gefahren. Wenn du mal aus dem Hafen raus bist, ist das weiter kein Thema. Nur die Manöver im Hafen musst du dir genau überlegen, die sind anders als mit der Yacht.“ 
Keines der drei Schiffe hatte ein Bugstrahlruder. Also musste er sich auf gute alte Seemannschaft besinnen und sehr vorsichtig agieren. Die LIFELINE hat ein Gewicht von 300 Tonnen, wenn die mal in Bewegung sind, dann sind die nicht so schnell zu stoppen. „Aber ich hab‘ keine einzige Beule in den Rumpf gefahren.“ Lachte.

Als es ernst wurde, ging es nur noch um schnelles Entscheiden, zupackendes Handeln und genaue Kenntnis der Gefahr. Dabei half ihm seine Erfahrung aus den vielen tausend Seemeilen, die er mit seiner Segelyacht im Mittelmeer unterwegs gewesen war. „So ein Manöver nahe einem vollbesetzten wabbeligen Schlauchboot mit 100 und mehr traumatisierten Menschen, die wir an Deck holen wollen, muss genau überlegt werden. Wir evakuieren die Menschen immer zuerst mit unserem stabilen Einsatzschlauchboot und bringen sie dann an Bord, die LIFELINE bleibt meist in gehörigem Abstand.“

Zuerst brachten sie Schwimmwesten hinüber – 800 hatten sie an Bord, auch kleinere für Kinder. Außerdem für 250 Menschen Rettungsinseln von der Berufsschifffahrt und 275 Bundeswehrdecken für die klammen Nächte an Deck, „denn die Menschen müssen ja an Deck schlafen, unten ist alles mit Technik vollgestopft.“ 

Unser Gespräch stockte. „Noch mal zurück zum 22. Juni vor einem Jahr.“ Das war der Tag, an dem die LIFELINE mit den 234 Geretteten weder in Italien noch in Malta anlegen durfte. „Das müssen sechs anstrengende Tage und Nächte gewesen sein“, sagte ich. 

„Als das Wetter schlecht wurde“, erzählte Reisch, „und ich auf die Ost-seite von Malta ausweichen musste, um Schutz vor einem aufziehenden Nordweststurm zu suchen, da waren weit über hundert Menschen seekrank und fünf hingen im Hospital am Infusionstropf, weil sie immer noch dehydriert waren. Wir hatten einen Herzchirurgen als Arzt dabei, eine Anästhesie-Krankenschwester und fünf ausgebildete Rettungssanitäter. Trotzdem, das war hart.“

Wie es denn mit der Toilettensituation gewesen sei, bei so vielen Menschen?, wollte ich wissen. „Wir hatten zwei Toiletten für die ‚Gäste‘ mit Duschen, die alle zwei Stunden mit Hochdruckreiniger und Desinfektionsmittel gereinigt wurden. An solchen Arbeiten beteiligten sich die Geretteten freiwillig und wie selbstverständlich.“ 

„Der Grund für die Verweigerung in einen italienischen Hafen einzufahren?“, lachte Reisch und holte aus. ,,Europa habe Griechenland, Malta, Italien und Spanien viel zu lang allein gelassen. Dublin hätte längst überarbeitet werden müssen. Deshalb Salvinis harte Tour“. “Europa“, stöhnte er, „redet zwar immer von gemeinsamen Werten, während dort draußen auf dem Meer Menschen ganz unchristlich ertrinken.“ 

Die Leitung knackte. „Keinen rein lassen, das ist Salvinis unmenschliches Rezept, um die Kommission weichzuklopfen. Es ist dringend erforderlich endlich einen gerechten Verteilerschlüssel auf die Reihe zu bringen. Wenn nicht für alle, dann für die Willigen.“ Der Kapitän der LIFELINE redete sich in Rage. 

„Wenn jedes Mal ein neues Geschacher losgeht, wenn ein Schiff mit Geretteten irgendwo anlegen will, dann ist das für den Friedensnobelpreisträger Europäische Union erbärmlich.“ Das sei auch der Grund, weshalb die Kapitäne auf den Schiffen schließlich sagten, „ist mir scheiß-egal, ich fahr jetzt da rein!“, weil ihnen sonst die Menschen kollabieren oder ins Meer springen. Was ist das für eine Politik, die stärker gegen das Retten als gegen das Sterben vorgeht?“, rief er mir durchs Telefon entgegen. „Die EU tut mehr, um die Rettung zu verhindern, als die Menschen zu retten“, zitierte er sich selbst. „Das habe ich vor Gericht in Malta ausgesagt. Ich war richtig sauer“, sagte er grimmig, „obwohl ich sonst ganz entspannt bin.“

„Und wie ging es an Bord der LIFELINE weiter?“

„Ok, wir durften schließlich nach Malta rein – endlich! Die Menschen wurden auf verschiedene Länder verteilt, das Schiff festgesetzt und ich, der Kapitän, verhaftet. Angeblich weil die LIFELINE staatenlos unterwegs sei und keine korrekten Papiere hat. Dabei fuhren wir unter niederländischer Flagge und hatten Papiere vom Koninklijke Nederlandse Watersport Verbond“, erzählte Reisch. 

Der maltesische Staatsanwalt behauptete, Reisch sei mit einem nicht ordnungsgemäß registrierten Schiff unerlaubt in die Hoheitsgewässer Maltas eingelaufen. „Die wollten uns nur festhalten und verhindern, dass wir wieder auslaufen und erneut mit Geretteten ankommen.“ 

Drei Monate später hat ihm der holländische Verband ein neues, in allen Punkten gleichlautendes Zertifikat geschickt – mit nur einem einzigen Unterschied, diesmal hieß es: Homeport Amsterdam, Flag not applicated, Flagge nicht anwendbar. Anders gesagt: Heimathafen Amsterdam, aber ohne Flagge.“ 

In der Öffentlichkeit wird jetzt diskutiert, ob Sie ein Held oder ein krimineller Schlepper sind – was sagen Sie dazu?“

„Diese Frage macht mich wütend“, stöhnte er. „Da gibt es Leute, die werfen mir vor, ich würde Meertourismus und sogar ein Shuttle-Geschäft betreiben. Unter uns gesagt: jeder NGO-Kapitän hat so ein EC-Kartengerät dabei, damit wir die Menschen, bevor wir sie an Land lassen, auch abkassieren können – hahaha“, lachte er und trommelte heftig auf seinen Tisch. ,,Die Menschen kommen mit nichts außer dem, was sie auf dem Leib tragen. Die haben weder Koffer dabei, noch eine Tasche. Und denen sollen wir Geld abnehmen? Wie denn, was denn? Das ist doch absurd.“ 

Diese Vorwürfe gebe es schon, seit die ersten NGO’s mit privaten Seenotschiffen unterwegs seien. Aber genau so lange gebe es keinen einzigen Beweis dafür, dass das wahr ist. Außerdem rate er den Besserwissern und Kritikern dringend, selbst mal auf so einem Rettungsschiff als Crew anzuheuern und sich anzusehen, was da abgeht. 

„Als der kleine Alan Kurdi, nach dem das Rettungsschiff der Sea-Eye benannt ist, am Strand bei Bodrum tot in seinem roten Hemdchen im Sand lag und das Foto um die Welt ging, da hat das die Leute berührt und schockiert. Die selben Leute regen sich jetzt auf, wir würden Beihilfe zum Überleben geben – wie zynisch ist das denn?“     

„Was sagen denn die Leute, wenn Sie das in ihren Vorträgen erzählen?“, fragte ich. 

„Die klatschen betroffen Beifall. Am Ende lasse ich immer vier Bilder, jedes bis zu 15 Sekunden stehen und sage kein einziges Wort dazu. Die Stille wirkt stärker als noch so viele Worte. Ich sehe dann manche sich die Tränen aus dem Gesicht wischen.“

„Aber der Bogen müsse noch viel weiter gespannt werden, sagte er: Das Klima beschleunigt die Fluchtursachen.“ Die Sahelzone weite sich aus und vertreibe die Menschen von ihren Äckern und aus ihren Nischen. „Dafür können die Afrikaner nix“, knirschte er. „Der ökologische Fußabdruck eines Afrikaners ist gleich Null! Entwicklungshilfe ist Aspirin gegen den faulen Zahn, Notarztarbeit! Aber wir müssten eine Wurzelbehandlung durchführen. Und die Wurzel des Übels ist die Ausbeutung der afrikanischen Staaten durch unsere sogenannte erste Welt.“ 

Und was noch dazu komme, sagte er: Alle Kriege, „die in der dritten Welt geführt werden, werden mit Waffen aus der ersten Welt geführt. Dass wir unsere alten Klamotten nach Afrika liefern und damit die dort zaghaft entstandene Textilindustrie abwürgen, sei nur ein weiteres Beispiel. Das mit den Hühnchenresten, die sich angeblich bei uns nicht verkaufen lassen, weil wir nur Hühnchenbrust mögen, noch ein weiteres. „Wir liefern den Abfall, den bei uns keiner will, in die armen Länder und machen dort mit extrem niedrigen Preisen die Land- und Tierwirtschaft kaputt. Entwicklungshilfe sieht für mich anders aus!“ Er lachte bitter. „Krieg ist überall ein Grund, weshalb Menschen fliehen. Die nackte Not aber das stärkste Motiv.“ 

Nach einer kurzen Verschnaufpause, fuhr er fort: „Wir müssen weiter helfen, das ist das christlich-abendländische Gebot. Die EU ist daran schuld, wenn wir mit unseren Rettungsschiffen in den Häfen festsitzen und Menschen weiterhin ertrinken. Wieviele Kinder müssen noch im Meer versinken, bis etwas passiert?“

Nun hat die Wirklichkeit die MISSION LIFELINE und die anderen NGO’s eingeholt, sage ich. Die Aktivisten werden mit Spott und Häme überschüttet und als Gutmenschen beschimpft – oder sogar als verantwortungslose Schlepper diskreditiert.    

„Ich halte jede Menge aus“, sagt er,  „ – was soll ich dazu sagen? Natürlich gibt es Pro und Contra. Ich hab‘ ja nichts dagegen, wenn es auch kritische Leute gibt, aber ich hab was dagegen, wenn man mich unter der Gürtellinie beschimpft. Man kann über alles diskutieren, aber immer auf der Respektebene und nicht bösartig, hinterhältig, gehässig und darunter. Wenn mich Leute als Arschloch beschimpfen, dann hört es auf. Das gab es noch bei keinem Vortrag. Aber auf Facebook und den anderen Netzwerken – lassen wir das, sprechen wir von etwas anderem.“

Sein Telefon klingelte, er verschwindet aus der Leitung, dann rief er zurück. „Was ich noch sagen wollte: 2018 wurden 40% durch die NGO’s gerettet, 60% durch die Handelsschifffahrt und die Seestreitkräfte der EU. Aber keiner hat die Reedereien und die Frachtschiff-Kapitäne beschimpft. Auch Schiffe der Bundesmarine haben schon Menschen aus absaufenden Schlauchbooten gezogen. Da wurde nicht gemotzt. Nur wir werden verbal bespuckt und attackiert. Salvini hat die NGO’s aufs Korn genommen, weil er gegen uns am leichtesten perfide Stimmung bei seinen Wählern machen kann.“

„Zwei Punkte noch“, sagte ich. „Erstens Rückführung – wie steht es damit? Zweitens das neue Schiff.“

„Eine Rückführung in das Bürgerkriegsland Libyen, aus dem die Menschen geflohen sind, ist nach der Genfer Konvention (Non Refoulement Verbot Art. 33 Abs. 1) nicht zulässig. Ebenso ist im Internationalen Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS) in Absatz 1.1 der Regel V/33 nachzulesen, dass die Geretteten innerhalb einer angemessenen Zeit an einen sicheren Ort zu bringen sind. Diesen Port of Safety weist die Seenotleitstelle, in unserem Fall Rom, als Koordinator zu. Der ist – entgegen der Meinung vieler Kritiker – keineswegs die freie Wahl des Kapitäns.“  

Wer in ein libysches Zwangscamp zurück geschickt werde, habe kaum eine Chance, da wieder rauszukommen. „Es sei denn, seine Familie kann ihn freikaufen“, sagte Reisch. Die Frauen werden in die Prostitution geschickt und die Männer in Arbeitslager. Angeblich würden in Tripolis auf öffentlichen Märkten Arbeitssklaven für 300 bis 400 Dollar verkauft. Und natürlich haben die, die es trotzdem wagen, weder je zuvor das Meer gesehen, noch können sie schwimmen. Die stehen dann irgendwann nachts am Strand, hören das Klatschen der Wellen und wer nicht freiwillig auf so ein Boot steigt, wird mit vorgehaltener Kalaschnikow gezwungen. „Ich habe Schreckliches gehört“, sagte Reisch.

 „Es ist also gar nicht erlaubt, die Menschen nach Libyen zurückzubringen? Genau das werde aber doch den privaten Seenotrettern immer vorgehalten: Bringt sie doch dahin zurück, wo sie hergekommen sind!“ 

„Nach dem Bombardement eines Migrantenlagers mit 50 Toten und über 100 Verletzten soll Libyen ein sicheres Land sein?“ fragt Reisch mit tonloser Stimme. „Libyen ist ein Bürgerkriegsland, in dem die Wartenden und die Rückgeführten ausgebeutet, erpresst, misshandelt und eingekerkert werden, um das Grenzwächtergeld von Europa zu kassieren.“

Rechtlich ist das nicht zulässig, zitiert Kapitän Reisch Professor Alexander Proeßl von der Jura-Universität in Hamburg.

„Es ist also genau umgekehrt: Wer es unterlässt, Menschenleben zu retten, macht sich schuldig. Dieser Vorwurf geht direkt an die libysche Küstenwache, die uns mit Ausrufen wie ‚Helper, I kill you!‘ auf dieser Mission bedroht hat. Wir haben alle Funksprüche aufgezeichnet“, so Reisch.

„Meine letzte Frage: Sie bekommen ein neues Schiff?“

„Ja“, jetzt lacht er wieder, diesmal entspannt und fröhlich. „Das neue Schiff liegt in Spanien. Wir geben weder Namen noch Standort bekannt, bevor wir nicht im Einsatz sind, damit nicht alle Salvinis der Welt uns irgendwo auflauern. MISSION LIFELINE hat das Schiff mit Spendengeldern gekauft – an dieser Stelle mein Dank an alle, die sich beteiligt haben. Das Neue ist etwas kleiner, so um die 20 Meter und wird unter europäischer Flagge fahren. Zur Zeit wird noch umgebaut: Watermaker, Krankenstation, Kojen für die Crew, alles kleiner als auf der LIFELINE, wir müssen ja gut haushalten mit dem Geld, das uns anvertraut wurde. Demnächst werden wir unterwegs sein. Wer Interesse und Zeit hat mitzumachen, bitte melden: crew@mission-lifeline.de

„Von der fast einen Million, die Böhmermann und Heufer-Umlauf für die Sea-Watch und ihre Kapitänin Carola Rackete gesammelt haben, bekommen Sie nichts ab?“

„Das wissen wir noch nicht, aber wir brauchen natürlich dringend finanzielle Unterstützung: www.mission-lifeline.de/spenden/

Alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen hat der Kapitän der LIFELINE vor dem Gericht in Malta zurückgewiesen. „Unsere sechs Missionen bisher haben über 450 Menschen das Leben gerettet – ich bin mir keiner Schuld bewusst und gehe mit erhobenem Kopf vor das Gericht“, habe er selbstbewusst vor dem Gerichtstermin in die Kameras gesprochen. 

„Das Meer“, sagt er zum Schluss unseres Gespräches “ist in großer Gefahr. Jeder, der nur so zu seinem Vergnügen zwischen Gibraltar und Antalya herumschippert, müsse damit rechnen, mit der Wirklichkeit konfrontiert zu werden – dann muss er handeln! Besser er hat sich vorher Gedanken darüber gemacht und beginnt nicht erst dann mit dem Nachdenken, wenn er in Panik erstarrt. Das Mittelmeer hat seine Unschuld verloren“, sagt LIFELINE-Kapitän Reisch und verabschiedete sich. Ein TV-Team warte für das nächste Interview auf ihn.

Er schickte mir noch ein kurzes Statement auf WhatsApp: „Was ist das für eine Welt, in der stärker gegen das Retten als gegen das Sterben vorgegangen wird?“

Am 21.05.2019 wurde der Kapitän der LIFELINE von einem Gericht auf Malta zu einer Strafe von 10.000 Euro wegen der angeblich nicht richtigen Registrierung verurteilt. Dagegen ist er in Revision gegangen. Die Rettung aus Seenot darf nicht durch Anerkennung einer Strafe als Verbrechen anerkannt werden. 

Sieben Wochen nach diesem Interview steuerte Kapitän Reisch am 2. September 2019 mit dem neuen Schiff ELEONORE und 100 aus dem Meer Geretteten an Bord trotz Einlaufverbots in den sizilianischen Hafen Pozzallo ein. Reisch hatte den Notstand an Bord ausgerufen, weil er eine Krise befürchtete – das Schiff war nicht für so viele Menschen ausgestattet. 

Reisch wurde zur Zahlung von 300.000 Euro  ‚Bußgeld‘ verurteilt und die ELEONORE festgesetzt. Die Rettungsorganisation MISSION LIFELINE reichte Widerspruch ein, muss aber davon ausgehen, dass sich die harte Haltung Italiens gegenüber privaten Seenotrettern trotz Regierungswechsel in Rom kaum ändern werde – obwohl der bisherige Innenminister Salvini nicht mehr zum neuen Kabinett gehört. Fünf EU-Mitgliedsstaaten haben sich bereit erklärt, die 104 Migranten von der ELEONORE aufzunehmen. Neben Deutschland auch Frankreich, Irland, Portugal und Luxemburg.

Wie es weiter geht? „Wir geben nicht auf“, sagt der Vorsitzende von MISSION LIFELINE, Axel Steier. „Es gibt bereits Spendenzusagen für den Kauf eines neuen Schiffes.“  

Fotos: Hermine Poschmann

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