25.000 sind eine Zahl. Tjark ist ein Mensch.

25.000 sind eine Zahl. Tjark ist ein Mensch.

Mission Lifeline sprach am 16.März mit Tjark im Camp Moria. Er ist 16 Jahre alt und aus Afghanistan über den Iran und die Türkei nach Griechenland geflohen. In der Türkei wurde er durch Polizisten zusammengeschlagen, verhaftet und beraubt. Sie stahlen sein Telefon und verbrannten seine Kleidung. Er musste nach Teheran, Iran, zurück und Geld für einen erneuten Fluchtversuch verdienen. Nach zwei vergeblichen Versuchen über die Ägäis schaffte er es beim dritten Anlauf nach Griechenland und sitzt nun seit über sechs Monaten im Lager Moria fest. Auf seiner Flucht und während seiner Zeit im Lager wurde er zwei Mal vergewaltigt. Nach den schrecklichen Entwicklungen der letzten Wochen hat er auch keine Beschäftigung über den Tag mehr. Die Schule wurde geschlossen, die allgegenwärtige Gewalt wächst tagtäglich.
Sein Schicksal steht für viele – seine Geschichte ist kein Einzelfall! Durch die traumatische Flucht sowie die drohende tägliche Gewalt sinkt seine Hoffnung jeden Tag. Wir Europäer*innen müssen jetzt handeln und wenigstens die Kinder und ihre wichtigsten Bezugspersonen aus dieser Hölle befreien!

Seit wann lebst du im Lager Moria?

Ich bin seit sechs Monaten und zehn Tagen in Moria.

Wo sind deine Eltern?

Darum bin ich hier. Die Taliban hatten Kämpfe mit der afghanischen Armee und haben 1800 Kämpfer verloren. Sie kamen in unser Dorf und sagten, dass, weil ich jung sei, mit ihnen kommen und gegen die Armee kämpfen solle. Darum bin ich hier. Als ich im Iran angekommen war, hörte ich, dass die Taliban unser Zuhause angegriffen haben. Und ich weiß nicht, wo meine Familie ist. In unserem Dorf gibt es kein Internet, ich kann sie nicht erreichen und weiß nicht, ob sie am Leben sind oder nicht.

Wie ist das Leben hier in Moria?

In 2019 war es etwas besser. 2019 hat die Polizei keine Minderjährigen geschlagen, aber jetzt schlagen sie Minderjährige. Sie denken nicht darüber nach, ob du minderjährig oder erwachsen bist. Eines Nachts habe ich mal einen Polizisten gefragt, ob er mir Essen geben kann. Er sagte: „Komm rein, ich werde dir Essen geben.“ Als ich nach drinnen gegangen bin, haben mich zwei Polizisten geschlagen. Ich habe sie gefragt: „Warum?“ Sie haben nichts gesagt und meinten: „Geh weg.“

Haben sie dich mit einem Polizeiknüppel geschlagen?

Nein, sie haben mich mit der Faust geschlagen.

Und haben sie dich schwer verletzt?

Körperlich haben sie mich nicht schwer verletzt, aber in meinem Herzen haben sie mich sehr verletzt. Ich habe ihnen gesagt: „Ich bin alleine hier.“ Ich wurde gezwungen, aus Afghanistan hier her zu kommen und hier wollen sie mich nun auch nicht. Was soll ich machen? Es ist sehr hart.

Wie ist dein Alltag? Wie sind deine Lebensumstände hier?

Ich lebe im sogenannten Sektor, (1) dort war es in der Vergangenheit etwas besser. Wir sind zur Schule gegangen und konnten raus zum Fußballspielen. Jetzt, wo griechische Faschisten Flüchtlinge verprügeln wollen, haben wir keine Schule und wir spielen kein Fußball mehr. Jetzt sollen wir den ganzen Tag im Sektor in einem Raum bleiben. Da dreht man durch. Die Leute sagen: „Was sollen wir nur tun?“ Sie weinen, sie trinken Alkohol. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Wie kannst du hier überhaupt überleben? Woher bekommst du Essen?

Sie lassen Essen ins Lager bringen. Die Faschisten haben den Weg einmal blockiert, aber jetzt kommt es wieder. Heute haben sie uns nur so wenig Honig gegeben (er zeigt auf die oberen zwei Segmente seines kleinen Fingers).

Und Brot?

Ein Brot und, wie gesagt, das bisschen Honig.

Und das ist alles für den ganzen Tag? (2)

Nein, nur für den Morgen, aber es reicht nicht aus. Wir bekommen dann noch einen kleinen Kuchen und einen Saft. Sie geben uns Würste aus Schweinefleisch und machen diese in den Reis. Wir essen das nicht. (3)

Bekommst du von irgendwo Geld, um dich zu versorgen?

Sie geben uns nichts. Sie geben uns nicht nur kein Geld, sie waschen unsere Sachen auch nicht. Wenn wir sie danach fragen, dann geben sie uns eine Handvoll Waschpulver. Damit müssen wir dann unsere Unterwäsche, Schuhe, Kleidung und Socken waschen.

Und wo wäschst du dich selbst? Habt ihr Duschen?

Ja, es gibt Duschen. Die sind OK.

Weil sie im „Sektor“ sind, oder?

Ja, aber die Leute von außen wollen immer in unserem Raum (ab)waschen, weil es da etwas warmes Wasser gibt.

Wie viele Leute leben in deinem Raum?

Es ist ein kleiner Raum, auf 20m² leben 20 Menschen. Sie streiten die ganze Nacht lang. Zum Beispiel wenn einer sagt, dass sein Freund mit da schlafen soll und ein anderer sagt: „Nein, dein Freund soll nicht hier sein.“, dann fangen sie an zu streiten. Es gibt auch Räume mit 36 Menschen drin.
In der gleichen Größe?
Ja, die gleiche Größe. Sie haben nur zwei Toiletten und zwei Duschen.

Gibt es viel Gewalt?

Nein.

Im inneren „Sektor“ ist es OK?

Drinnen ist es ein bisschen besser. Aber zum Beispiel ist eine Person aus dem Raum Nummer 1 sehr krank geworden. Er hat Fieber, Kopf- und Halsschmerzen, also das gleiche wie bei Corona. Ich sagte zur Polizei: „Kommt, ein Freund von mir ist sehr krank und vielleicht ist es Corona.“ Der Polizist wollte mich schlagen und meinte: „Warum sagt du das? Damit macht man keine Witze.“ Ich sagte: „Bitte komm dir das anschauen. Er ist wirklich sehr krank.“ Darauf sagte er wiederum: „Wenn du mich verarschst, komme ich nicht.“ Und dann ist er nicht gekommen. Die Polizei benimmt sich nicht anständig gegenüber Geflüchteten. Sie würden uns nicht auf der Straße schlagen. Sie packen uns in eine Polizeiwache, dort schlagen sie uns dann versteckt.

Gibt es neben der Gewalt durch Polizeibeamte auch Gewalt von erwachsenen Geflüchteten gegen Jugendliche?

Ja, hier zum Beispiel, mein Zimmergenosse Amar, er hat von einem aus dem Raum 2 ein Telefon für 50 Euro gekauft. Sie stehlen so etwas und verkaufen es dann weiter. Als er es gekauft und in seine Hand genommen hatte, sagte eine Person: „Es ist nicht dein Telefon, du hast es geklaut.“ Danach kamen fünf Männer und eine Frau mit einem großen Messer in den Bereich, der nur für Jugendliche ist, und sagten: „Gib mir mein Telefon oder ich werde dich schlagen und töten.“ Die Polizei hat uns nicht geholfen. Wenn wir etwas sagen, sagen sie nur, dass wie abhauen sollen. Alles ist sehr schlecht, wir haben kein Essen und nichts zu tun. Was sollen wir machen?

Was möchtest du der Europäischen Union und den Menschen in Europa sagen?

Die Leute hier sagen der Europäischen Union immer wieder: „Tut das oder das oder das.“
Sie werden doch eh nichts tun, also was soll ich sagen? Vielleicht eine Sache – Wir wurden gezwungen zu kommen. Wenn wir ein gutes Leben in Afghanistan hätten, warum sollten wir dann hierherkommen? Nur das, nicht mehr.

Also hast du gar keine Hoffnung mehr?

Mein Onkel ist in Finnland. Ich will dorthin gehen. Das ist meine Hoffnung. Hier in Moria habe ich unter 22.000 Menschen niemanden, nur ein paar meiner Zimmergenossen sind meine Freunde. Ich habe niemanden, zu dem ich gehen und mit dem ich sprechen könnte. Hier kann man nichts machen. Wir sollen herumsitzen und Videos schauen und nichts tun. Ich habe nur diese Hoffnung, meinen Onkel zu sehen.

Gab es für dich in den letzten Monaten Einschnitte durch die Angriffe von Faschist*innen und Rassist*innen? Das du dich z.B. nicht mehr in den Supermarkt getraut hast?

Ich wollte mit Amar nach Mytilini gehen, weil ich dort einen Anwalt für die Familienzusammenführung habe. Und der Anwalt hat mir geschrieben, dass ich dahin kommen sollte, weil er etwas mit mir besprechen muss. Wir sind zu dritt dort hin und auf dem Weg hat uns ein Faschist, in einem Auto, gesehen und uns versucht zu überfahren. Wir hatten große Angst und wir sind umgekehrt und so habe ich meinen Anwalt nicht getroffen.

Bist du zu „One Happy Family“ gegangen? Die Schule, die sie abgebrannt haben?

Ihr kennt ja Elena und sie arbeitet auch dort. Ich hatte eine Infektion am Fuß und bin da hin und sie haben den Fuß medizinisch versorgt. Hier im Camp sagen sie dir nur: „Trink Wasser.“ Wir haben nur sieben Doktoren für 22.000 Menschen, die hier leben.

Tjarks Odyssee wird ein gutes Ende finden. Nach 7 Monaten in Moria darf er zu seinem Verwandten nach Finnland ausreisen

Schlechte Neuigkeiten von Tjark – er darf das Land nicht verlassen, bis die Behörden und die EASO wieder öffnen. Wenn sie wollten, könnten sie. Zeit zu handeln!

Fußnoten

1) Auf englisch wird immer von „Section“ gesprochen. Der sogenannte Sektor ist der interne Bereich des eigentlichen Kernlagers. Nach diesem Bereich kommt ein weiterer mit stabileren Containerunterkünften. Beide Bereiche sind durch Stacheldrahtzäune, die überall durchlöchert sind, getrennt. Danach folgt ein weiterer Stacheldrahtzaun, hinter dem sich der Bereich des sogenannten Dschungels, das wild-gewachsene Camp, anschließt.


2) Elena, die Betreuerin der Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen, zu der auch Tjark gehört, meinte in einem anderen Interview, dass die Jugendlichen 800 Kalorien am Tag bekommen. Quelle (Stand 16.03.2020): https://www.blick.ch/news/ausland/eu-zofft-ueber-1000-unbegleitete-minderjaehrige-auf-lesbos-krankenschwester-klagt-an-ele-id15794036.html Jungen im Alter von 15-18 Jahren benötigen laut dem Forschungsinstitu für Kinderernährung Dortmund 3.100 Kalorien pro Tag. Quelle (Stand 16.03.2020): www.labbe.de


3) Wir gehen davon aus, dass Tjark Moslem ist und daher kein Schweinefleisch zu sich nimmt.

Foto: MISSION LIFELINE

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